Stör langsam – Dieter Hildebrandt goes Web-TV

Dieter Hildebrandt hat sich auf ein ungewöhnliches Experiment eingelassen: Mit 85 Jahren präsentiert er ein Web-TV-Format, finanziert durch Crowdfunding. 150.000 Euro kamen zusammen. Dieses Osterwochenende feierte stoersender.tv seine Premiere.

big-stoersender

Empört Euch!

„Empört Euch!“ hat der deutsch-französische Widerstandskämpfer Stéphane Hessel bis kurz vor seinem Tod im Februar dieses Jahres in die Welt hinaus gerufen. Empört Euch über die Banken, die Lobbyisten und die Politiker, die wie Marionetten an den Fäden der Großkonzerne hängen. Empört Euch! – unter diesem Motto gingen letztes Jahr hunderttausende Menschen in Madrid, in New York oder in Tel Aviv auf die Straße, um für mehr Gerechtigkeit und Chancengleichheit zu demonstrieren.

Stéphane Hessel in der Premieren-Sendung der Rundshow, Mai 2012

Empört und verstört

Einer, der sich schon empört hat, als ich noch gar nicht auf der Welt war, ist zurück auf dem Bildschirm; wenn auch nicht auf dem Bildschirm, der ihn einst landesweit bekannt gemacht hat. Dieter Hildebrandt, Vater des politischen Kabaretts, will es nochmal wissen. Zusammen mit Karikaturist Dieter Hanitzsch (79) und einigen Weggefährten (u.a. Konstantin Wecker, Georg Schramm, Urban Priol, Frank Markus Barwasser – aka Erwin Pelzig) hat der 85-Jährige das Webvideo-Format stoersender.tv gegründet.

Jenseits der Quote

Mit stoersender.tv zeigt Dieter Hildebrandt den etablierten Sendeanstalten den ausgestreckten Mittelfinger. Senderchefs und Gremien werden links und rechts stehengelassen, vor allem rechts. Ausgerechnet ein 85-Jähriger tut das, was schon lange Aufgabe professioneller TV-Anbierter gewesen wäre; er entwickelt ein Kabarett-Format fürs Netz – vor allem aber fürs Hirn. Mit einem Finanzierungs-Modell, jenseits von Zwangsabgabe und Kommerz-Trash.

Mastermind hinter dem Projekt ist Stefan Hanitzsch, „stark verwandt“ (Hildebrandt) mit dessen Vater Dieter Hanitzsch. Der 36-Jährige kümmerte sich um die Webseiten der beiden Herren. Aus einem Gespräch heraus u.a. über die NSU-Morde und die Occupy-Bewegung war die Idee des Störsenders geboren. Stefan Hanitzsch ist Journalist und hat u.a. für die Süddeutsche Zeitung und den Bayerischen Rundfunk gearbeitet. Später wechselte er die Seiten und war als Pressesprecher für die SPD in Bayern und Berlin tätig.

Der will doch nur stören

Der Störsender will, wie der Name schon sagt, in erster Linie stören. Gestört werden sollen „Menschen und Organisationen, die ihrerseits die Demokratie stören“. Alle 14 Tage gibt es dazu ein 30 Minuten-Magazin auf YouTube und Vimeo, mit exklusiv produzierten Clips von Dieter Hildebrandt und seinen Bühnen-Kollegen, mit animierten Musikeinlagen, Interviews, Berichten und sog. „Störaktionen“, die auch offline fortgeführt werden sollen. „Eine Mischung aus Kabarett, Journalismus und sozialem Engagement“, so Stefan Hanitzsch.

startnext

Los ging es mit der Crowdfunding-Aktion am 7. Dezember bei Startnext. 125.000 Euro wollte man sammeln, um damit die ersten 20 Episoden zu finanzieren. Nach gerade mal 6 Wochen war das Ziel erreicht. Bis März sind sogar 150.000 Euro zusammen gekommen. Jeder Spender (Liste der Unterstützer), egal ob mit einem 5 oder 500 Euro Beitrag, wird VIP – ein „Very Intelligent Pressefreiheitskämpfer“ und darf u.a. die aktuelle Folge 3 Tage vor der eigentlichen Premiere sehen. Wer ein Abo gekauft hat, kann dieses Recht auch für alle folgenden Episoden in Anspruch nehmen.

„Crowdfunding ist die Heiligsprechung von künstlerischer und redaktioneller Freiheit.“

stoersender.tv

Bruce Willis meets Free Rainer

Die Premierensendung mit dem Thema „Finanz-Casino-Kapitalismus“ steht seit heute bei YouTube online (Spender-VIPs konnten die Clips bereits seit Donnerstag Abend bei vimeo ansehen). Die Reaktionen des Premierenpublikums bislang durch und durch positiv: „vielen dank für eure idee und den arsch, den ihr in der hose habt!“ schreibt EMMAPBERLIN bei YouTube, oder auch „endlich mal wieder ungeschminkte Kritik und sinnvolle, unzensierte Satire.“ Auch Titelvorschläge werden gemacht. A. Günther schreibt bei Startnext: „Stör langsam – ein guter Tag zum Stören“. Ein bisschen wie „Free Rainer“, so TheMoenroe, jene Mediensatire aus dem Jahr 2007, die mit dem Slogan „Dein Fernseher lügt“ versucht hatte, die Verdummungsindustrie „Fernsehen“ zu enttarnen.

stoerlogo

Occupy Fernsehen

Störsender ist im besten Sinne anarchisch, handgemacht und alles, nur nicht Mainstream. Zugegeben, technisch nicht immer ganz ausgereift (Ton!) – dafür atmet stoersender.tv etwas, was den meisten verklumten und durchgelanzten Fernsehformaten in der Profiliga fehlt: Mut, Wahrhaftigkeit und eine spürbare Liebe der Macher zu dem, was man da tun.

hildebrandtWir Fernsehmacher wären gut beraten, das ernst zu nehmen, was die Truppe um Hildebrandt da tut. Ich vermute jedoch, dass in den Sendeanstalten kaum einer überhaupt Kenntnis davon nimmt, weil man zu sehr beschäftigt ist mit Dingen wie Primetime-Programmierung, Audience-Flow und Quotenoptimierung.

Einer wie Dieter Hildebrandt würde da nur stören.