Mit Millionen von Gutscheinen, die Bertelsmann an deutschen und österreichischen Schulen verteilt, geht der Medienkonzern gezielt auf Adressenjagd von Minderjährigen – und läuft Sturm gegen die geplante Datenschutzverordnung in Brüssel.

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G! Collage / Bildquelle: Bertelsmann, Shutterstock, iStock

tl;dr Deutsche Verlage bezeichnen Google und Facebook als Datenkrake. Recherchen von LobbyPlag haben ergeben: Zu den größten Datenkraken zählen die Verlage selbst, die in Berlin und Brüssel Druck ausüben, um auch weiterhin an die Daten – insbesondere von Kindern und Kleinkindern – zu gelangen.

Die zurückliegende Woche hatte es in sich: Zwei Ausschüsse in Brüssel, bei denen – so wird berichtet – sich die Unternehmen weitestgehend mit ihren Forderungen nach weniger Regulierung durchsetzen konnten (die Unterlagen dazu liegen uns noch nicht vor). Zeitgleich in Berlin: Auftritt der deutschen Verlagsbosse bei einem Fachgespräch im Deutschen Bundestag. Eigentlich geht es um das Leistungsschutzrecht. Doch auch diese Bühne wird von den Unternehmen genutzt, um Stimmung zu machen gegen zu viel Datenschutz in Deutschland und Europa.

Leistungsschutzrecht oder Nazis

Wenn es um die eigenen Pfründe geht, scheinen die Verleger um keinen Superlativ verlegen. Deutsche Verlage, die letzte Bastion gegen Datenkraken wie Google oder Facebook. Selbstlose Ritter im Kampf um Bildung und Demokratie. Den Vogel aber schießt der Geschäftsführer der Chemnitzer Verlag und Druck GmbH, Ulrich Lingnau mit folgender Kausalkette ab: NSU-Sympathisanten wüchsen ohne Zeitung auf – ergo: Ohne Leistungsschutzrecht überlasse man Deutschland den Nazis (zugegeben, er hatte es etwas eleganter formuliert).

„Seriös anschreiben“

Dann: Julia Jäkel aus dem Vorstand von Gruner & Jahr (Bertelsmann). Die Vorzeigemanagerin und Ehefrau von Ulrich Wickert hält ein flammendes Plädoyer für den „unabhängigen Journalismus“ – und – für das Datensammeln. „Sie müssen in der Lage sein, Abonnenten auf eine seriöse, intelligente Art und Weise wieder zu finden“, sagt sie und lenkt das Thema plötzlich auf die EU-Datenschutzverordnung in Brüssel (s. Video: ab Minute 29:15).

Wenn in der EU „eine solche Datenschutzverordnung lanciert“ werde, so die Verlagsmanagerin, werde es in Zukunft nicht mehr möglich sein, Kunden, die man noch nicht kenne, „seriös anzuschreiben“.

In Händen hält sie dabei eine „Eltern“-Zeitschrift (auf dem Cover: eine Mutter mit Baby). Eine solche Form von „unabhängigen Journalismus“ könne es dann nicht mehr geben, warnt sie. Das Internet sei zwar voll von guten Informationen, aber eben auch von „interessengesteuertem Journalismus.“

Also quasi das genaue Gegenteil von Gruner + Jahr, Europas größtem Zeitschriftenverlag.

Damit man sich bei Gruner + Jahr diese Unabhängkeit weiter leisten kann, wird nebenan bei der Bertelsmann-Tochter arvato die Drecksarbeit erledigt. Hier werden die Daten rangeschafft, um neue Kunden „seriös anzuschreiben“, anzurufen oder ganz gerne auch mal zuhause zu besuchen. Und dafür scheint jedes Mittel recht.

Tatort Schule

Mitte letzter Woche erreicht mich die E-Mail eines Bloglesers aus Bayern. Der Familienvater berichtet von Bücher-Gutscheinen, die an der Schule seiner Kinder von der Klassenleitung verteilt wurden. Die Karten sind gezielt an die Schule adressiert, sogar die jeweilige Klassenkennung (hier „8c“) ist bereits maschinell ausgefüllt. Absender: inmediaONE, eine hundertprozentige BertelsmannTochter (einst beim Adresshändler arvato/Bertelsmann angesiedelt, heute bei der Bertelsmann Direktmarketing Gruppe). (nachträglich ergänzt)

gutschein-inmediaone

Bei diesen „Buchgeschenken“ handelt es sich um Paperback-Hefte, nicht zu verwechseln mit vollwertigen „Duden“-Hardcover-Werken

Ich spreche mit einer Mutter aus Baden-Württemberg. Auch ihre 7-jährige Tochter (2. Klasse Grundschule) kam eines Tages mit einem Bertelsmann-Gutschein nach Hause. „Beim ersten mal habe ich die Karte gleich weggeworfen“, erzählt sie mir am Telefon. Beim zweiten Gutschein, ein Jahr später, habe sie dann nachgegeben. „Da war dieser Gruppendruck“, sagt sie fast entschuldigend. „Ich wollte nicht, dass meine Tochter die Einzige in ihrer Klasse ist, die kein Buch bekommt.“

Bertelsmann-Kinder-Datenschutz

Wenn der Bertelsmann zweimal klingelt

Es folgen Anrufe und Hausbesuche von Handelsvertretern im Auftrag von Bertelsmann. In Internet-Foren berichten betroffene Eltern von der immer gleichen Masche: Jetzt, wo das Kind doch das erste Buch habe, sei es ganz besonders wichtig, auch die anderen Bücher zu kaufen. „Sie möchten doch nicht, dass Ihr Sohn Probleme in der Schule bekommt?“

Akte-Bertelsmann
Drückermethoden im Auftrag von Bertelsmann (Quelle: Sat.1)

Mit welchen Methoden manche Vertriebspartner in Auftrag von Bertelsmann vorgehen, hat Sat.1 mit versteckter Kamera gefilmt (ab Minute 2:15).

Es kann auch vorkommen, dass die Adressen der Schulkinder bei politisch-fragwürdigen Handelsvertretern landen. Hier die Geschichte, die die Wochenzeitung Kontext dazu recherchiert hat.

Fragen an inmediaONE

Anruf bei Jürgen Hakenkamp von inmediaONE. Routiniert werde ich abgewimmelt. Der Kundendienstleiter sei „gerade in einem Meeting“. Auf den versprochenen Rückruf warte ich vergeblich.

Also E-Mail. Mein Fragenkatalog landet bei Matthias Wulff, der Wert darauf legt, dass man ihn als „einen Sprecher der Inmediaone“ bezeichnet, obwohl die Kennung seiner Geschäfts-E-Mail auf eine direkte Tätigkeit beim Mutterkonzern Bertelsmann deuten lässt.

Frage: Halten Sie es für angebracht, an Schulen Privatadressen von Minderjährigen einzusammeln um diese für Werbezwecke zu benutzen?

„Wir führen unsere Gutschein-Aktion nur mit Zustimmung der jeweiligen Schulleitung an den Schulen durch und bieten als Geschenk ausschließlich Produkte aus dem Bildungsbereich an. Wenn die Eltern nicht in die werbliche Ansprache einwilligen, nutzen wir die Daten nur für die Abwicklung der Gutscheinaktion. Die Einwilligung ist dabei übersichtlich gestaltet und informiert in transparenter Weise darüber, dass bei Erteilung der Einwilligung eine werbliche Ansprache durch unser Unternehmen möglich ist.“

Matthias Wulff, inmediaONE / Bertelsmann

Übersichtlich? Transparent?

Die mir vorliegende Gutschein-Karte (die Aktion lief über 10 Jahre – es gibt mehrere Versionen) gehört zu dem perfidesten, was mir jemals an Kleingedrucktem unter die Lupe gekommen ist: In einem ersten Feld (links unten) wird man darüber belehrt, dass die Daten des Kindes zu Werbezwecken gespeichert werden. So weit so schlecht. In einem zweiten 4-Punkt-Schrift großen Text rechts unterhalb des Adressfeldes heißt es, dass die Daten des Schülers in jedem Fall gespeichert und an Dritte weitergreicht werden können – auch ohne Einwilligung.

Karte-Trick

Auf die Frage, wieviele solcher „Gutschein-Karten“ in Umlauf seien, schreibt der Bertelsmann-Sprecher:

„Bitte haben Sie Verständnis, dass wir zur genauen Auflage keine Angaben machen. In etwa handelt es sich hier um eine niedrige siebenstellige Auflage.“

Eine Million? Zwei Millionen? Drei? Seit 2002 läuft die Erhebung von Kinder-Daten an Schulen in ganz Deutschland sowie in Österreich. Vereinzelt haben Kultusministerien reagiert und ihre Schulleiter angewiesen, solche Aktionen nicht länger zu unterstützen.

weichertWie kann so etwas legal sein?

Geregelt seien derartige Erhebungen im Schulrecht, das in Länderzuständigkeit liegt, erklärt Thilo Weichert, Datenschutzbeauftragter von Schleswig-Holstein. Es könne also bundesweit unterschiedliche Regelungen geben. Einer der Gründe, weshalb bislang nichts unternommen wurde.

Mit der bevorstehenden EU-Datenschutzverordnung könnten solche Sammelaktionen an Schulen europaweit gestoppt und mit hohen Strafen belegt werden – es könnte aber alles noch viel schlimmer kommen.

Einfallstor für Reklameanrufe und Haustürgeschäfte

Florian Glatzner vom Verbraucherzentrale Bundesverband warnt in diesem Zusammenhang vor Artikel 19 Absatz 2 des EU-Kommissionsentwurfs:

„Werden personenbezogene Daten verarbeitet, um Direktwerbung zu betreiben, hat die betroffene Person das Recht, dagegen unentgeltlich Widerspruch einzulegen.“

Klingt erstmal harmlos. Doch der Teufel steckt im Detail. Dieses Widerspruchsrecht lasse vermuten, so der Verbraucherschützer, dass Direktmarketing zukünftig auf Basis des Artikels 6 Absatz 1 Buchstabe f („berechtigtes Interesse“) möglich sein soll.

Die Verarbeitung personenbezogener Daten ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist: (…) Die Verarbeitung ist zur Wahrung der berechtigten Interessen des für die Verarbeitung Verantwortlichen erforderlich, sofern nicht die Interessen oder Grundrechte und Grundfreiheiten der betroffenen Person, die den Schutz personenbezogener Daten erfordern, überwiegen, insbesondere dann, wenn es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt.“

Auf deutsch: Gelangt ein Unternehmen an eine Privatadresse, sollen Werbeanrufe, Reklamesendungen und Hausbesuche grundsätzlich erlaubt sein, auch ohne explizite Zustimmung des Betroffenen. Begründung: ein berechtigtes (hier: geschäfltliches) Interesse der Firma. Es kommt aber noch härter:

Kein Schutz für Kinder

Wie ein Lobbypapier (s. Grafik) zeigt, bemüht sich der Verband Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ) derzeit in Brüssel, ausgerechnet die Schutzklausel für Kinder aus dem oben zitierten Gesetzestext streichen zu lassen:

VDZ-Kinderdaten

Mächtiges Mitglied des VDZ ist die Bertelsmann-Tochter Gruner + Jahr. Wir erinnern uns: Jenes Unternehmen, das vergangenen Mittwoch im Deutschen Bundestag erklären ließ, wie wichtig es sei, neue Kunden auf „seriöse und intelligente Art und Weise“ anzuschreiben.

VDZ-Kinderdaten-2

LobbyPlag: Neue Systematik

Nach einer ersten groben Durchsicht der rund 4000 Seiten Lobby-Papiere, die LobbyPlag aktuell vorliegen, wurde uns schnell klar, dass sich Beeinflussung von Abgeordneten nicht allein durch das Abgleichen von Copy & Paste-Textstellen nachweisen lässt. Das oben angeführte VDZ-Beispiel zeigt, dass entscheidende Lobby-Eingriffe auch durch Streichungen oder in Form von unscheinbaren Umformulierungen stattfinden können.

Wir haben uns daher eine neue, zusätzliche Systematik überlegt, wie wir die „Battlegrounds“, also die besonders umkämpften Gesetzespassagen in diesem Mammut-Reformwerk, kenntlich machen können.

Kartographie eines Gesetzes

Für die kommenden Wochen haben wir uns vorgenommen, einen Katalog aller Änderungswünsche der diversen Lobbyisten zu erstellen.  Aus dem Katalog soll eine Karte werden, die alle Kampfzonen im Gesetzestext visualisiert, und zeigt, wie und unter welchen Einflüssen welcher Teil der neuen Datenschutz-Regeln zustande kommt.

Wer uns dabei über die Schulter schauen möchte: hier sammeln wir die Fundstellen für den Katalog (nicht editierbar). Für diese Liste sind wir noch auf der Suche nach zuverlässigen Rechercheuren (möglichst mit juristischer Vorbildung). Bitte meldet Euch!

Außerdem freuen wir uns weiterhin über Spenden, da für LobbyPlag viel Zeit draufgeht und keiner aus unserem Team damit Geld verdient.

Fragen, Wünsche oder Anregungen bitte direkt an info@lobbyplag.eu oder öffentlich hier unten im Kommentarfeld.

UPDATE zu diesem Blogpost: Bertelsmann: „Kindergärten angetestet“

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104 Kommentare
  1. Tali schreibt:

    Im gesamten Kontext sicherlich nicht so wichtig wie andere Punkte – aber gibt es Informationen dazu, ob eventuell für die Schulen (Schulleitungen) bzw. Kitas (Kitaleiterinnen) Prämien oder „Belohnungen“ herausspringen, wenn sie bei den Werbeaktionen mitmachen und die Verteilung der Karten erlauben?

    • Freeflight schreibt:

      Meiner Meinung nach ist das im gesamten Kontext sogar besonders wichtig!
      Es kann doch nicht sein das Schulleitungen derartig fahrlässig mit einer solchen Thematik und den eigenen Schutzbefohlenen umgehen?

      Eine gewisse Grundbindung zu den Verlagen besteht ja sowieso schon, durch den Vertrieb der Schulbücher, da sind sich die Verleger auch um nichts zu schade um irgendwie den Fuß in die Türe zu bekommen (bzw. den Fuß drin zu lassen).

      Wie groß wäre wohl das Geschrei, zu Recht, wenn Google oder Facebook auch nur annähernd ähnliche Aktionen starten würden? Hier werden aber nicht nur Augen zu gedrückt, nein man beteiligt sich auch noch als willige Helfer.

      Ich finde da sollte man eher mal Druck auf die Schulleitungen ausüben, damit derartiges Treiben schon im Keim erstickt wird. In den meisten Schulen wird diese Praxis aber wohl als „Normal und unbedenklich“ angesehen werden, wenn man bedenkt wie lange das schon läuft. Schulen sollen ein neutraler Ort der Bildung sein und kein Fangbecken für Marketingfirmen!

      • Schulen sollten generell frei von Werbung jeglicher Art sein. Es gibt genug Spielraum drumherum und Bücher für die Weiterbildung ihres Kindes werden Eltern auch ohne die Hilfe von Verlagen finden.

  2. […] Mitarbeiter von Bertelsmann-Objekten könnten bald Gegenwind kriegen. Richard Gutjahr hat da Dinge herausgefunden, von denen mir lieber wäre, sie wären nicht […]

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