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2015, ich bin noch nicht fertig mit Dir! Was für ein aufregendes Jahr Du doch warst. Für mich eines der wegweisendsten Medien-Jahre überhaupt. 10 Erkenntnisse aus 2015 und die alles entscheidende Lektion für das Überleben der Sender und Verlage in der digitalen Welt.

 

2015 war für mich ein Wendejahr. Das Jahr, in dem Tech-Unternehmen wie Facebook mit seinen Instant Articles Fakten geschaffen haben und endgültig in die Rolle der Sender und Verleger geschlüpft sind.

Bevor ich mich Hals über Kopf in das nächste Jahr stürze, hier ein paar Gedanken über das, was ich aus 2015 mitnehme und welche Schlussfolgerungen ich daraus ziehe:

 

1. Platform killed the Media-Star

Man muss sich die Entwicklung der letzten Jahre mal auf der Zunge zergehen lassen. Erst begnügten wir uns damit, bei Facebook auf unsere eigenen Seiten zu verlinken. Dann gingen wir dazu über, Teile unserer Inhalte auf Facebook zu posten – zunächst Fotos, als wir lernten, dass Bewegtbilder von Facebook bevorzugt werden, vermehrt auch Videos.

2015 dann die Einführung von Instant Articles. Nicht nur, dass wir jetzt unsere Inhalte auf einem Silbertablett servieren, wir haben dazu auch noch die Abwicklung des Anzeigengeschäfts komplett an Facebook abgetreten. Ein Aderlass.

Fazit: Den Verlust der Kontrolle über die eigenen Inhalte gegen Reichweite – noch nie zuvor wurde die Hilflosigkeit der Legacy Media gegenüber den neuen Playern deutlicher.

 

 

2. Technology matters!

Der Besuch einer großen Universität in den USA ließ mich ratlos zurück. Im Frühjahr hatte ich die Chance für mehrere Tage College-Kids auf dem Campus bei ihrem Medienkonsum zu beobachten.

Erkenntnis 1: Wachsende Ungeduld! Was Mark Zuckerberg und Jeff Bezos seit jeher predigen, scheint ein reales Problem zu sein. Technische Mängel, wie zu lange Ladezeiten oder irreführende Weiterleitungen werden von der jüngeren Generation abgestraft.

In den wenigsten Fällen klicken die Studenten noch auf Links. Zu langwierig, zu umständlich. Der zu erwartende Informationsgewinn gegenüber dem Zeitverlust zu gering.

Fazit: Mehr Coder! Die technische Umsetzung journalistischer Angebote ist für den Erfolg eines Nachrichtenmediums mindestens so entscheidend wie die Themenauswahl oder die Recherche.

 

 3. Partikel statt Artikel

Erkenntnis 2 meines College-Besuchs: In den seltensten Fällen werden Nachrichten noch am Stück verfolgt, sondern in Fragmenten, die wie eine Art Fortsetzungsgeschichte über den Tag hinweg konsumiert werden, oft sogar nur mehr über verlängerte Schlagzeilen oder Push-Nachrichten auf dem Lock-Screen des Smartphones. Das setzt eine völlig neue Artikelstruktur und –Taktung voraus.

Auch lange, zusammenhängende Texte sind gefragt, allerdings seltener in der Hektik des Alltags, sondern verstärkt am Wochenende oder an Feiertagen – dann gerne auch auf bedrucktem Papier!

Was nicht bedeutet, dass Longreads im Netz keine Chance haben. Elemente daraus müssen speziell für das jew. soziale Netzwerk konfektioniert und gestaltet werden (siehe auch Blogpost: „Make it snackable„).

Fazit: Weg von der strukturierten Geschichte, hin zu granularen, thematisch gebündelten Nachrichten-Updates.

 

 

 4. New Kids On The Block

Bei diesem Punkt habe ich Zweifel, ob er sich so ohne weiteres auf Deutschland übertragen lässt. Der Vollständigkeit halber möchte ich ihn hier aber dennoch erwähnen. Ein Teil der College-Studenten hatte die Aufgabe, für die Dauer des Semesters ein Medientagebuch zu führen – sprich: Tag für Tag sämtliche Medienquellen aufzulisten, die sie konsumieren, um sich zu informieren.

Die Auswertung war überraschend: Einerseits fanden sich auf der Liste der meistgenutzten Informationsquellen einige alte Bekannte, wie z.B. die New York Times oder auch CNN. Andererseits befanden sich unter den Top 10 Nachrichtenquellen immerhin 6 Medienmarken (z.B. Huffington Post, Politico, Buzzfeed oder Vox), die es vor 10 Jahren noch nicht gab. Randnotiz: CNN wird bei den Jungen offenbar nicht mehr als TV-Sender wahrgenommen, sondern als Online-Angebot.

Fazit: Auch klassische Medienmarken können überleben, sofern sie sich an die neue Medienrealität anpassen.

 

5. Livestreaming wird Mainstream

Fast schon eine Binse, allerdings eine, die es wert ist, mit etwas Abstand noch einmal betrachtet und eingeordnet zu werden. Im März 2015 bloggte ich über die neuen Livestreaming-Apps Meerkat und Periscope (vor allem mein englischer Text über Periscope erfreute sich an der US-Westküste offenbar großer Beliebtheit). Wie zu erwarten war, legte sich der Hype um die neuen Wunder-Apps schnell wieder. Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass Livestreaming seine ganz große Zukunft noch vor sich hat.

Kein Liveticker ist schneller, intimer und näher dran als Livevideo. Spätestens mit der neuen Mobilfunkgeneration 5G (LTE+), besseren Akkus und einer Integration von Periscope & Co in unsere TV-Geräte (siehe Apple TV) werden Livestreams den Mainstream erreichen. Und auch wir Journalisten werden bis dahin lernen, uns ob der neuen Möglichkeiten nicht verleiten zu lassen, journalistisch Amok zu laufen (siehe Stern.de-Video).

Fazit: Der gute alte Live-Reporter wird dank Livestreaming sein großes Comeback erleben.

 

 

6. Snapchat wird erwachsen

Mit Prognosen sollte man bekanntlich vorsichtig sein, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Und doch möchte ich so weit gehen und behaupten, dass Snapchat von allen Social Networks, die mir in den letzten Jahren begegnet sind, das meiste Potential hat, zu den großen Facebooks und Twitters aufzuschließen.

Mit der Einführung von Profi-Inhalten (Discovery) ist es Snapchat gelungen, sein einstiges Image als Teenager- und Sexting-App abzulegen. Auch bei Ereignissen wie den Terror-Anschlägen von Paris ließ sich das Potential (kuratierter) Augenzeugen-Videos zumindest erahnen.

Mit seiner Mischung aus Messaging- und Video-Plattform kombiniert Snapchat gleich zwei Killer-Anwendungen von Smartphones. Hinzu kommt die geschickte Integration der Lokalisierungsfunktion, von Filtern, In-App-Verkäufen und nicht zuletzt Werbung. Kein Soziales Netzwerk zuvor hat so früh so viele und so unterschiedliche Monetarisierungswege erschlossen.

Fazit: Snapchat ist der neue Star am Social Network-Himmel. Die US-Präsidentschaftswahl 2016 könnte der App zum weltweiten Durchbruch als News-Plattform verhelfen. (Wenn Ihr mir auf Snapchat folgen wollt: ich experimentiere seit Mitte 2015 unter „richardgutjahr„)

 

snapchat_chart

 

 7. Die Smartwatch als Schlüsselbund

Auch 8 Monate später bleibe ich bei meinem Urteil vom Frühjahr (Blogpost: Apple Quatsch): Die Apple Watch in ihrer jetzigen Form ist ein für Apple untypisch unfertiges Produkt, das unter Steve Jobs so niemals auf den Markt gekommen wäre.

Dennoch glaube ich sehr wohl an die Zukunft von Wearables. Wenn man die Smartwatch nicht als Uhr, sondern als Schlüsselbund begreift, mit dem man bezahlen, Türen öffnen, digitale Inhalte freischalten kann, deren Nutzungsrechte man erworben hat.

applewatchStellen wir uns vor, wir betreten ein Hotelzimmer und der Fernseher begrüßt uns mit der aktuellen Folge der TV-Serie, die wir gerade schauen. Im Bad läuft die Musik-Playliste, die wir gerne hören. Keine Magnetkarten, keine PIN-Codes oder Passworte mehr. Ein absoluter No-Brainer, natürlich wird das kommen. So gesehen ist die Apple Watch für diese Welt ein schicker Prototyp. Warum nicht.

Fazit: Smartwatches werden sich durchsetzen. Weniger als Medien-Empfangsgerät, sondern als digitaler Geldbeutel und Schlüsselbund.

 

 

8. Klasse statt Klicks

Seit Jahren predige ich in meinen Workshops: Sei der Erste und oder sei der Beste. Was sich in der Flut an Angeboten heute keiner mehr leisten kann, ist Mittelmaß.

Während wir uns in den vergangenen Jahren vor allem auf den ersten Punkt, nämlich die Geschwindigkeit konzentriert haben (Noch nen +++ Breaking-News-Alert +++, anyone?), rückte 2015 wieder die Qualität in den Fokus.

Gemeint sind damit nicht jene Schau!-mich!-an!-Multimedia-Projekte, um zu prahlen, was man theoretisch alles drauf hat (das „Snowfall-Syndrom“). Gemeint ist jene Form von Qualität, die nicht die Ausnahme sondern die Regel ist und die durchaus ein reales Publikum vor Augen hat und nicht die Jury des nächstbesten Journalistenpreises.

Allerdings muss man sich von dem Gedanken verabschieden, durch Qualität viele Klicks oder eine große Reichweite zu generieren. Die neue Währung im Netz lautet Aufmerksamkeit, Relevanz und Vertrauen, das man zu seinem Publikum aufbaut. Die Refinanzierung erfolgt nicht mehr ausschließlich über Masse, sondern über neue, noch schwer messbare Kriterien wie Glaubwürdigkeit, Vertrauen und Engagement.

Fazit: Einschaltquote und Auflage verlieren an Bedeutung. In der digitalen Welt zählen andere Währungen wie Aufmerksamkeit, Relevanz und Engagement.

 

9. Unser Geschäft ist das Beziehungsbusiness

Warum heißt Facebook FACEbook und nicht Brandbook? Warum interessieren wir uns für das angezapfte Kanzlerinnen-Handy, nicht aber ganz allgemein für Themen wie Datenschutz oder Überwachung? Die Antwort ist so analog wie zeitlos:

Wir sind nun mal Menschen – und als solche identifizieren wir uns vor allem mit anderen Menschen, nicht mit Marken. Ein Prinzip das in einer digitalen Welt noch mehr an Bedeutung gewinnt, als bisher.

Wir Journalisten werden Teil der Produkte, die wir herstellen. Ich möchte sogar so weit gehen und behaupten: Das eigentliche Produkt sind am Ende wir selbst (siehe Horizont-Interview: „Ich könnte schreien“).

In einer Zeit, in der es keinen Mangel an Information gibt, wird der Filter selbst zum Entscheidungskriterium, nicht die beliebig austauschbaren Inhalte. Schon im Fußball gilt: Gute Spieler gibt es viele. Aber: Es gibt nur ein‘ Rudi Völler.

Gefragt sind in Zukunft Experten, die über ein eigenes Stammpublikum (Fans & Follower) verfügen, die sie einem potentiellen neuen Arbeitgeber als „Mitgift“ mitbringen.

Je weiter sich das Publikum fragmentiert, desto entscheidender werden die einzelnen Mitarbeiter, die in bestimmten Nischen eine überdurchschnittliche Glaubwürdigkeit besitzen. Jeff Jarvis (Video) sieht im Relationship-Business den alles entscheidenden Faktor für das Überleben klassischer Medienanbieter.

Fazit: In Zukunft rücken die einzelnen Mitarbeiter stärker ins Zentrum der Medienwelt, gewinnen an Macht und Einfluss innerhalb der Sender und Verlage.

 

 

10. Endspiel: Talent

Big Data, Virtual Reality, künstliche Intelligenz – Themen, die wir auf dem Schirm haben sollten. Allerdings glaube ich nicht, dass das die eigentlichen Kämpfe sind, die wir in absehbarer Zeit führen werden.

Wenn ich den Sendern und Verlagen, die mich zu Workshops oder Konferenzen einladen, nur einen Rat für die Zukunft geben kann, dann diesen:

Respektieren Sie Ihr Publikum, investieren Sie in Ihre Mitarbeiter! Was so selbstverständlich klingt, ist die Lektion, die selbst das Silicon Valley auf die harte Tour lernen musste.

In einer durch und durch digitalisierten Welt sind Kreativität und Talent der letzte Battleground, der über Exzellenz, über Sieg oder Niederlage, Aufmerksamkeit oder Austauschbarkeit unterscheidet (siehe auch Blogpost: „Die Kunst wird uns retten„).

Wer auf das eine Killer-Konzept wartet, das den erhofften Durchbruch bringt, geht ein hohes Risiko ein. Klüger ist es, in die Menschen zu imvestieren und innerhalb seines Teams für das richtige Klima zu sorgen. Früher oder später wird diese Maßnahme Früchte tragen.

Leider habe ich im zurückliegenden Jahr feststellen müssen, dass ausgerechnet die vielversprechendsten Talente den klassischen Medien immer häufiger den Rücken kehren. Sei es durch innere Kündigung. Sei es, weil diese zu Facebook, Twitter oder Buzzfeed (aktuelle Stellenausschreibungen) wechseln. Zu den Ursachen für diesen Braindrain, lest unbedingt diese großartige Analyse von @Rands.

Wieder Andere suchen ihr Glück in einem Startup. Gut für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Schlecht für die etablierten Medienhäuser. Sind es doch gerade diese Mitarbeiter, von denen die alten Redaktionen mehr bräuchten, damit der Wandel in das digitale Zeitalter gelingt.

 

Foto: Michael M. Roth, MicialMedia
Foto: Michael M. Roth, MicialMedia

 

Zusammenfassung: Lektionen in Demut

 

In einer vollvernetzten Gesellschaft zählt nicht mehr allein die Masse, sondern gewinnt das Individuum zunehmend an Bedeutung.

Massenmedien sind heute Medien der Massen. An der Schnittstelle zwischen Inhalte-Anbieter und Konsument sitzen nicht länger die Sender oder Verlage, sondern Plattformen wie Google oder Facebook.

Medienhäuser müssen lernen, die gestiegenen Ansprüche des Publikums ernst zu nehmen, um nicht im allgemeinen Netzrauschen unterzugehen. Nicht derjenige, der alle gleichsam mit Mittelmaß, sondern derjenige, der Individuen exzellent bedienen kann, gewinnt.

Aufmerksamkeit im Tausch gegen Respekt – und zwar sowohl gegenüber dem Publikum, als auch gegenüber den eigenen Mitarbeitern – so die verkürzte Formel für das Überleben in einer digitalen Welt.

 

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34 Kommentare
  1. Marco Graßmann schreibt:

    Erst mal einen schönen Guten Tag nach Tel Aviv. Dass mit Snapchat sehe ich etwas anders. Solange es dort keine vernünftige Suchfunktion gibt, wird es bei Live Ereignissen nicht das Potential entwickeln, dass Periscope oder Twitter haben. Perlen bei Snapchat finde ich leider nur durch Zufall. Das ist wirklich schade.

    • Richard schreibt:

      War das mit Twitter oder Facebook anders? Gib Snapchat noch 1-2 Jahre. Du könntest Recht behalten – aber ich denke, das Potential ist da.

  2. Andreas Rackow schreibt:

    Eine sehr gute Analyse, Danke

    • Richard schreibt:

      Danke für’s Lesen!

      • Andreas Rackow schreibt:

        Schreiben muss ich noch üben :-) Habe doch glatt meine Website statt mit „Bindestrich“ mit „Punkt getrennt. Schönen Sonntag noch,

      • Wolfgang Schwaiger schreibt:

        Hallo , sehr geehrter Herr Richard
        Dieser Artikel ist der Beste, den ich, seit sehr langer Zeit, lesen durfte.
        Danke

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