Spione wie wir

Deutschland und die Totalüberwachung. Höhere Gewalt, behauptet die Regierung und verweist auf die USA. Dabei sitzt ein wesentlicher Teil des Problems ganz woanders – und zwar im Deutschen Bundestag.

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Überwachung made in Germany

Alle Augen sind auf Washington gerichtet: Wird US-Präsident Obama in seiner für heute angekündigten Grundsatzrede zum NSA-Skandal die Cyber-Spione in ihre Schranken weisen? Gerne tun wir so, als seien wir an der Total-Überwachung Deutschlands gänzlich unbeteiligt. Dabei beginnen die Probleme nicht erst im fernen Amerika, sondern vor unserer eigenen Haustür. [nobox]

Gemeint sind nicht etwa Programme wie PRISM, Tempora oder XKeyscore. Ich meine den systematischen Ausbau des staatlichen Überwachungsapparates, den wir selbst zu verantworten haben: Antiterror-Datei, Staatstrojaner, Funkzellen- und Bestandsdatenabfrage, Überwachung des Zahlungsverkehrs, Einschränkung der Versammlungsfreiheit, die Umkehrung der einstigen Unschuldsvermutung in die Formel: „Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten“.

NSA Google Search

Macht Ignoranz mitschuldig?

Begründet mit dem Totschlag-Argument „Terrorismus“ haben die letzten drei Bundesregierungen einen Raubbau an Bürgerrechten betrieben, wie man das sonst nur von Notstandsgesetzen kennt: Die Aushebelung von Post- und Telekommunikationsgeheimnis, der Zugriff auf Handy- und Computerdaten schon bei Ordnungswidrigkeiten. Bis heute sind uns NSA, GCHQ aber auch deutsche Sicherheitsbehörden jeden Nachweis schuldig geblieben, dass die anlasslose Überwachung sämtlicher Bürger auch nur einen einzigen Terroranschlag verhindert hat.

Als Journalist wurde mir beigebracht, habe ich neutral zu sein, soll ich mich niemals gemein machen mit einer Sache, und sei sie auch noch so gut. Was aber, wenn eine Sache derart böse ist, dass das reine Abbilden nicht mehr genügt, um die faktische Übermacht von international agierenden Geheimorganisationen auszugleichen? In Anbetracht der Erosion von Bürgerrechten auch durch den voranschreitenden Ausbau deutscher Sicherheitsgesetze im Inland, mache ich mich nicht mitschuldig, wenn ich mich auch nur einen Tag länger um Neutralität bemühe?

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Der Große Bruder hat viele Gesichter

Können wir überhaupt noch von einem Rechtsstaat reden, wenn offenkundige Rechtsverstöße, wie die Massenausspähung unbescholtener Bürger gar nicht mehr verfolgt, geschweige denn geahndet wird? Wenn wir die Sicherheit zum Supergrundrecht erklären und diese über alles stellen, müssten wir zur Fußball-WM in Brasilien nicht eher singen „Einigkeit und Recht und Sicherheit“? Und was, wenn es den Mächtigen in Berlin am Ende gar nicht um die Sicherheit geht, so wie es der NSA nicht um Terrorbekämpfung geht, wenn sie Merkels Handy anzapft oder deutsche Unternehmen bespitzelt? (dazu auch: Die Vorratsdatenverräter)

Wenn wir zulassen, dass undurchsichtige Behörden auch in Zukunft weiter ungehindert Zugriff auf unsere E-Mail- und Telefonverbindungsdaten haben und ihnen damit gestatten, immer tiefer in unsere Gedanken einzudringen, sehe ich auf Dauer nicht nur die Pressefreiheit, sondern das gesamte Rechtssystem und damit unsere Demokratie in Gefahr. Ob Chefredakteur, Manager oder einfacher Bürger, wir dürfen nicht länger tatenlos zuschauen. Und wenn doch, sagen Sie später bitte nicht, Sie hätten von nichts gewusst.