We’re fucked.

Journalisten sind in der digitalen Welt wichtiger denn je. Sie prüfen, bewerten, ordnen ein. Professionelle Autoren werden immer gebraucht. Doch was, wenn das gar nicht stimmt?  

 

paperboy

 

Vor kurzem bin ich auf einen Aufsatz gestoßen, der mir keine Ruhe lässt. Er stammt von dem Wiener Publizisten Hermann Bahr und handelt von der Zukunft der Literatur, von Dichtern, Schriftstellern und Journalisten – sprich: von jenem Berufsstand, der durch Deutung der Welt mittels Sprache seinen Lebensunterhalt bestreitet.

hermannbahrIn diesem Essay prophezeit der Dramatiker das Ende der Massenmedien wie wir sie kennen. Bemerkenswert: Viele Thesen, die Bahr in seinem Aufsatz aufstellt, haben sich inzwischen bewahrheitet. Um so bemerkenswerter: Der Text stammt aus dem Jahr 1910.

„Das Kennzeichen der Literatur in hundert Jahren wird es sein, dass es keine Literaten mehr geben wird, nämlich keinen besonderen Stand, der das Privileg hat, für die anderen das Wort zu besorgen, wie der Bäcker das Brot und der Metzger das Fleisch.“

Nun mag man beschwichtigen, die Literatur blüht, die Massenmedien sind lebendig wie eh und je. Studien belegen: Noch nie haben die Menschen so viel Zeit mit Medien verbracht wie heute. Gleichzeitig müssen wir feststellen: Klassische Medien (und deren Macher) haben in den letzten Jahren einen krassen Bedeutungs- und Ansehensverlust erfahren.

Fernsehzuschauer, die gegen einseitige Berichterstattung aufbegehren. Journalismusverdrossenheit, die sich in Shitstorms oder Begriffen wie „System-“ oder „Lügenpresse“ manifestiert. Zeitungsmacher, die sich vom Aufbegehren der Leser scheinbar zutiefst getroffen, um nicht zu sagen beleidigt fühlen.

Dabei können wir uns glücklich schätzen. Solange sich die Leute über uns auslassen, werden wir Journalisten wenigstens noch wahrgenommen. Was aber mit einer Generation, die klassische Medien von vorne herein links liegen lässt? Die sich über Tagesthemen-Kommentare („Sie, Frau Bundeskanzlerin, wisssen das!“) noch nicht einmal mehr aufregt. Gottlieb – wer?

 

detroit-news-1917

 

Was, wenn der Journalist nicht mehr gottgegebener Gatekeeper und alleiniger Bewahrer des Guten ist? Wie keine Generation vor uns stehen wir Medienmacher im Wettbewerb; zum Einen mit Googles Algorithmen, zum Anderen mit den digitalen (Wut) -Bürgern auf Twitter und Facebook. Man denke an den Claim der FAZ: „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“. Dieser kluge Kopf hat heute ein Megaphon und er weiß damit umzugehen, oft besser als manch Berufs-Journalist.

Hermann Bahr schreibt – wohlgemerkt im Jahr 1910:

„Man versuche nur, sich einmal klar zu machen, worauf die jetzige Literatur beruht. Eine Reihe von Menschen lebt davon, dass ihre Gedichte gekauft werden. Ein Gedicht ist der Zustand irgend eines Menschen, in Worte verschlossen. Es ist durch aus nicht einzusehen, warum ein anderer Mensch es sich etwas kosten lassen soll, diesen ihm fremden und gleichgültigen Zustand kennen zu lernen.“

 

nyt1942

 

Wenn wir feststellen müssen, dass die reine Übermittlung einer Nachricht heute per se keinen Wert mehr darstellt und dass die Menschen gelernt haben, selbst zu selektieren, zu bewerten und zu gewichten – was bleibt uns Journalisten noch?

„Ist dann also das bewegende Grundmotiv der heutigen Literatur ausgeschaltet, so wird zunächst fraglich, ob nicht alle Literatur [über Jahrhunderte] stillstehen (…) wird, solange nämlich, bis es etwa geschehen mag, dass einer mal aus ganz anderen, heute durchaus unbekannten Motiv das Wort nimmt, also z.B. vielleicht, weil er etwas zu sagen  hat, oder auch einfach deshalb, weil er, geheimnisvoll getrieben, eben muss.“

Diesen „geheimnisvollen“ Antrieb erleben wir seit geraumer Zeit bei einer vergleichsweise jungen Literatur-Gattung: bei Blogs. Sind Blogger die Dichter der Neuzeit? Bahr wagt eine kühne These:

„Das Dichten hätte dann keinen Zweck mehr, sondern nur noch einen Grund, nämlich im eigenen Trieb.“

Zu schreiben (Bahr: „geistiges Müllern“) ohne Bezahlung? Sowas ist heute bei Blogs die Regel. Tatsächlich liefert Hermann Bahr im Jahr 1910 in einem sich selbst distanzierenden Konjunktiv eine nahezu punktgenaue Definition für das spätere Bloggertum:

„Es ließen sich immerhin Menschen denken, denen auch ein solches sinnloses und zweckloses Dichten, ein Dichten an und für sich, Freude machen könnte, so wenig wir jetzt eigentlich in der Lage sind, uns einen solchen Menschenschlag recht vorzustellen.“

Dem Schriftsteller erscheint dieser Gedanke derart verwegen, dass er sich schickt, anzufügen:

„Dies kommt uns heute freilich höchst phantastisch vor, aber seit wir es erlebt haben, dass der Mensch das Fliegen erlernt hat, sind wir geneigt, allen Ausschweifungen der Phantasie zu trauen.“

 

Das Ende der Presse in Jahren

Den Titel einer Zeitung/Zeitschrift ins Suchfeld tippen (Lupe) - Visualisierung von OpenDataCity

 

Was aber bedeutet diese korrekt antizipierte Entwicklung für den heutigen Journalisten? Denkt man die Prophezeiungen von Bahr zu Ende, so lassen sich folgende Schlüsse ziehen:

 

 

Demnach wären Huffington Post, BuzzFeed, Heftig & Co nur ein Vorgeschmack auf das, was kommt. Das Klima im Kampf um die Deutungshoheit, die bislang vor allem den großen Sendern und Verlagen oblag, wird rauher. Sollte Hermann Bahr mit seiner Prophezeiung tatsächlich Recht behalten, stünde uns Medien-Fuzzis das Schlimmste noch bevor:

 

„Zu bemerken ist noch, dass jedenfalls der Übergang zu dieser neuen Zeit, in der jeder sein eigener Dichter sein wird, sehr große Schwierigkeiten haben muss. Denn es wird vor allem die Frage zu lösen sein, was mit den außer Betrieb gesetzten Dichtern geschehen soll, und es ist zu befürchten, dass für sie durchaus nicht so leicht eine auch nur halbwegs passende Verwendung zu finden sein wird. Seien wir froh, dass uns diese Sorgen unserer Enkel erspart bleiben!“

 

Oder in anderen, Twitter-freundlicheren Worten:

We’re fucked.