Fernsehen ist wie YouTube nur kaputt

Letztes Jahr hatte mich die Niedersächsische Landesmedienanstalt (NLM) zum Mediengespräch nach Hannover eingeladen. Titel der Konferenz: „Social Media – Neuer Trend oder nur Hype?“. Zu dieser Veranstaltung ist jetzt ein Begleitband („Social TV in Deutschland“) erschienen. Daraus hier meine Begrüßungsansprache im Wortlaut.

 

tvgif2

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wer von Ihnen hat Kinder? Bitte heben Sie Ihre Hände! – Dann kennen Sie sicherlich folgendes Phänomen: Sie sind in der Früh unterwegs, auf dem Weg zur Arbeit. Vorher setzen Sie noch die Kinder im Kindergarten oder in der Schule ab und im Hintergrund, im Radio, läuft ein tolles Lied. Zufällig das Lieblingslied Ihres Sohns oder Ihrer Tochter. Das Lied ist zu Ende, und was kommt ganz sicher hinten vom Kindersitz nach vorn gegrölt? – „Noch mal!“ Jetzt versuchen Sie mal, einem Kleinkind das Konzept Radio zu erklären. Einem Kleinkind, das mit YouTube aufgewachsen ist. Sie sagen: „Kind, das ist doch Radio. Das geht nicht.“ Das Kind schaut Sie an wie ein Auto…

nlmvortragDie Dinge, mit denen wir aufgewachsen sind und die wir als völlig normal begreifen, sind für die Generation nach uns im Grunde genommen ziemlich verrückt. Und mal ganz im Ernst – eigentlich hat das Kind ja recht. Eigentlich hat das Kind recht und nicht wir. Wir sind es gewohnt, dass Radio so funktioniert. Aber es war technisch nicht anders möglich. Heute hingegen ist es fast schon exotisch, dass man sich ein bestimmtes Programm linear von einem Formatradio aufzwingen lässt.

Dasselbe Phänomen sehen wir beim Fernsehen. Vor einiger Zeit war ich auf einer Diskussionsveranstaltung beim Medienforum NRW. Dort bin ich über folgenden Satz gestolpert: „Fernsehen“, sagen Jugendliche mittlerweile, „das ist wie YouTube – nur kaputt.“ Weil sich Jugendliche nicht mehr gerne vorschreiben lassen, was sie um 20.15 Uhr zu sehen haben. Es sei denn, es sind Topmodels oder Dschungel-Geschichten. Es wird anders ferngesehen und ganz anders umgegangen mit dem Medium.

Als Zuschauer lasse ich mir doch nicht mehr vorschreiben, wann ich wie oft welche TV-Serie schauen darf

Schauen Sie Serien? „Game of Thrones“, „House of Cards“, „Breaking Bad“? Sie dürfen sich gerne melden, wir verurteilen Sie nicht. Das ist nämlich interessant. Als Zuschauer lasse ich mir doch nicht mehr von einem Programmplaner, der mich und meine Arbeitszeiten nicht kennt, vorschreiben, wann ich wie oft welche TV-Serie schauen darf. Genauso wenig warte ich noch bis montagmorgens in der Kaffeeküche, bis ich frage, ob mein Gegenüber „Wetten, dass…“ gesehen hat. Nein, keiner redet mehr zuerst in der Kaffeeküche. Die Kaffeeküche ist mittlerweile parallel zum großen Live-Event – sie läuft währenddessen.

 

douglasadams

 

Wer ist hier Medienwissenschaftler im Raum? Eins, zwei – Sie brauchen sich nicht zu schämen – drei, vier. Dann brauch ich Ihnen nichts zu erzählen: Enzensberger, Bertolt Brechts Radiotheorie, die kennt jeder. Die Sender werden zu Empfängern und die Empfänger zu Sendern. Schon seit fünfzig Jahren wird über die Rückkanäle theoretisiert. Und diese Zeit, über die damals noch spekuliert wurde – wie das wohl ist in der Zukunft, wenn alle Autos fliegen – diese Zeit ist jetzt. Der Rückkanal ist da. Und interessanterweise hat man fast den Eindruck, als hätte dieser Rückkanal die Medienlandschaft richtig kalt erwischt. Plötzlich sind Tatort-Schauspieler darüber entrüstet, wie es jemandem einfällt, eine Gemütsregung zu zeigen noch während der Film läuft. Und vielleicht sogar etwas zu googeln oder sich nebenbei noch mit Freunden auf Facebook oder Twitter zu unterhalten. Ich finde das ein wenig arrogant und weltfremd.

Es gibt Leute, die behaupten, dass Massenmedien, wie wir sie kennen, nur eine Laune der Geschichte waren

Denn wir müssen uns vergegenwärtigen, dass die Art und Weise, wie wir von oben herab gesendet und Sendungen empfangen haben, eigentlich noch nicht so alt ist. Es gibt sogar Leute, die behaupten, dass die Massenmedien, so wie wir sie kennen, nur eine Laune der Geschichte sind. Vergegenwärtigen Sie sich, wie man früher Geschichten am Lagerfeuer erzählt hat. Wie sich die Menschen auf der Agora in Athen Nachrichten überbracht haben. Wie die Leute mitgegangen sind in der Oper. Das war nicht so stocksteif wie am Grünen Hügel in Bayreuth, wo man fünf Stunden auf so einem Holzstuhl sitzt und gefälligst die Klappe zu halten hat. Die haben gegessen, haben gejolt, haben teilweise Szenen mitgespielt und sich währenddessen unterhalten. Das war völlig normal. Es war interaktiv, es war sozial.

 

 

Die Technik hat uns in den letzten Jahrhunderten bevormundet: Einer hat die Druckerpresse – wir alle haben stillschweigend zu lesen. Einer hat den Sendemast – wir alle haben still zu sein, wenn der Tatort läuft. Könnte es nicht sein, dass diese Zeit zu Ende geht? Und dass uns ironischerweise die Technik, die uns einst gegeißelt hat, nun umgekehrt wieder befreit? Ich weiß, dass ich in meiner Vorrede ein wenig pathetisch geworden bin. Ich glaube, wir müssen zurück zu den Fakten und zu den Menschen mit den Zahlen!

(Aufgezeichnet von Martin Wiens)

SocialTVStudy

 

 

 

Den gesamten Band der NLM mit dem Titel „Social TV in Deutschland“ (Hrsg. Christopher Buschow und Beate Schneider) könnt Ihr Euch hier als PDF herunterladen bzw. in gedruckter Form bestellen.