Welcome to the Wild Wild Web

„Transparenz ist die neue Objektivität – Warum das Netz uns zwingt umzudenken“- Mein Gastbeitrag in der Oktober-Ausgabe von. Kommunikation & Recht.

Vor einigen Wochen hatte mich der Herausgeber der Fachzeitschrift „Kommunikation & Recht“ am Rande einer Social-Media-Konferenz gefragt, ob ich das Editorial für eine seiner nächsten Ausgaben schreiben möchte. Thema: „Blogkultur vs. Unternehmenskommunikation“. Eine Ehre, der ich natürlich gerne nachgekommen bin. Vergangenen Freitag ist das Heft nun erschienen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie aktuell dieser Text auch für mich bald wieder werden würde.

Warum uns das Netz zwingt umzudenken

Als klassischer Journalist bin ich vielen Zwängen ausgesetzt: Sendelängen, Zeilenvorgaben, Dienstzeiten. Nicht so als Blogger. Hier gibt es für mich keine Deadline, keinen Vorgesetzten, keine großen Werbepartner, denen ich nicht all zu kritisch kommen darf. Kurz: ich bin schwer zu packen. Und genau das macht Leute wie mich gerade für Institutionen und Unternehmen, die viel zu verlieren haben, so gefährlich.

High Noon im Netz

Mit der Einführung des ePostbriefs versucht das ehemalige Staatsunternehmen seine Verluste durch das schrumpfende Briefpost-Geschäft auszugleichen. Intern gilt der ePostbrief als eines der wichtigsten Post-Projekte überhaupt. Der Marketing-Aufwand für Plakate, Anzeigen und TV-Spots wird auf rund 80 Millionen Euro geschätzt.

Vor wenigen Wochen sind Deutsche Post und ich aneinander geraten – im Internet. High Noon im Wild Wild Web, wenn man so will. Eine Begegnung, die die Post ziemlich viel Geld und Glaubwürdigkeit gekostet haben dürfte. Was war geschehen? Als ePost-Kunde der ersten Stunde habe ich etwas getan, was ich sonst nie mache: ich habe mir die. AGB durchgelesen. Darin enthalten einige Passagen, die mir glatt die Schuhe auszogen: So unterliegt der ePostbrief beispielsweise nicht etwa, wie die Werbung suggeriert, dem Brief- sondern lediglich dem Fernmeldegeheimnis. Daten aus dem ePost-Adressbuch dürfen an Geschäftskunden weitergegeben (verkauft?) werden, die Dauer der Speicherung von Briefen, selbst nach deren Löschung durch den Kunden, nebulös.

Ein Sturm zieht auf

Nachdem mir die Post ein Interview verweigerte und mich trotz mehrfacher Anfragen immer wieder abwimmelte, begann ich nach anderen Wegen zu suchen, um an die gewünschten Informationen zu kommen. Juristischen Beistand habe ich mir von zwei Blogger-Kollegen geholt, Udo Vetter (lawblog.de) und Thomas Stadler (internet-law.de). Das Ergebnis war ein Blogpost, der im Netz einschlug wie eine Bombe (sprichwörtlich: Aufgrund zigtausender Abrufe ging der Server wenige Stunden nach Veröffentlichung in die Knie). Heise, Die Zeit und Spiegel Online griffen das Thema auf. Twitter, Facebook und Wikipedia taten ihr Übriges. „Wir sind auf den Blogeintrag von Herrn Gutjahr aufmerksam geworden und werden in Kürze darauf eingehen“ twitterte die Deutsche Post in alle Richtungen. Der Gelbe Riese brauchte Tage, bis er seine Sprache wieder fand.

Die Medien der Massen

Stell dir vor, es ist Revolution, und keiner merkt es. Sie durchdringt alles und jeden, ob wir das wollen oder nicht. Laut ARD/ZDF-Onlinestudie 2010 sind knapp 70 Prozent der Deutschen online. Und die reden miteinander, Tag und Nacht. Facebook hat es verstanden, einen weltweiten Marktplatz zu etablieren, der auch ohne die klassischen Gatekeeper auskommt. Neben den Massenmedien etablieren sich die Medien der Massen (den Begriff prägte. Gunnar Bender). Ein Problem nicht nur für Verleger, die um ihr Anzeigengeschäft bangen, sondern auch für Institutionen wie Parteien, Konzerne oder Kirchen, die zunehmend an Einfluss und Deutungshoheit in der Gesellschaft verlieren.

Flucht nach vorn

Beispiel: Erzbistum Regensburg. Hier liefert sich die Katholische Kirche einen Rechtsstreit mit Stefan Aigner, einem ortsansässigen Blogger (regensburg-digital.de). Der zitierte eine im Spiegel aufgestellte Behauptung und kassierte eine Einstweilige Verfügung über eine Münchner Anwaltskanzlei. Früher wäre die Geschichte an dieser Stelle zu Ende gewesen. Der Journalist hätte eine Unterlassungserklärung unterschrieben, die Anwälte bezahlt und sich wieder brav in Reih‘ und Glied eingefügt. Wer kann sich schon einen Rechtsstreit gegen die mächtige Katholische Kirche leisten? Doch Aigner wagte die Flucht nach vorn, veröffentlichte den Vorgang in seinem Blog und bat die Netzgemeinde um Spenden. Binnen weniger Tage kamen über zehntausend Euro zusammen. Wichtiger noch: der Fall fand Einzug in die Massenmedien und wurde dadurch auch außerhalb des Webs bundesweit bekannt.

Ein unsichtbarer Gegner

Die digitale-, eine. unsichtbare Revolution. Von der analogen (realen) Wirklichkeit völlig unbemerkt hat sich im Netz eine digitale Parallelwelt etabliert. Vor allem große, klassische Organisationen wissen oft gar nicht, wie ihnen geschieht. Die üblichen Verteidigungsringe aus Callcenter, PR- oder Rechtsabteilung werden im Netz schlicht unterlaufen. Bis die Verantwortlichen begreifen, was überhaupt los ist, bricht der Shitstorm bereits über sie herein. Wer es sich leisten kann, heuert eine Agentur an, die rechtzeitig Alarm schlägt, bevor ein solcher Sturm aufzieht. Auch die Deutsche Post hat sich mit Pixelpark eine solche Netz-Agentur geleistet. Das Problem: Was nützt der beste Social Media Berater, wenn das Produkt unausgereift oder das Unternehmen dahinter in seinen alten Strukturen steckengeblieben ist?

New Journalism

Auch wir Journalisten müssen umdenken. Die guten und sicherlich auch heute noch gültigen Grundsätze von Haudegen wie Dagobert Lindlau, Peter Scholl-Latour, oder auch Hans-Joachim Friedrichs („sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten“) greifen zu kurz. Denn auch das Publikum hat sich emanzipiert und weiß: Objektivität existiert nicht. Schon die Wahl eines Themas durch den Redakteur ist eine Verzerrung von Realität. Was für ein Massenpublikum relevant sein mag, muss nicht relevant sein für das Individuum. Dank Internet verstehen unsere Leser, Hörer und Zuschauer heute sehr viel besser die Zwänge und Mechanismen, wie Nachrichten entstehen. Fehler versenden sich nicht mehr so schnell, Kritik an der Berichterstattung findet neuerdings auch außerhalb der (redaktionell bearbeiteten) Leserbriefseiten statt.

Transparenz ist die neue Objektivität

Was bedeutet das für die Kommunikation der Zukunft? Ob Journalismus oder Öffentlichkeitsarbeit: Wir müssen lernen, loszulassen, zu akzeptieren dass es immer jemanden da draußen geben wird, der schlauer ist als wir selbst. Objektivität im Journalismus oder Perfektion im Unternehmen sind gar nicht so entscheidend. Was zählt ist das Streben nach größtmöglicher Transparenz. Nur wer diese bietet, erntet Respekt – im Web wie im wahren Leben.


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Dieser Text erschien unter dem Titel: „Transparenz ist die neue Objektivität – Warum uns das Netz zwingt umzudenken“ in der Oktober-Ausgabe von Kommunikation & Recht, einer monatlichen Fachzeitschrift des Verlags Recht & Wirtschaft mit Sitz in Frankfurt am Main.

Leseempfehlung: Joho-Blogpost von David Weinberger „Transparency is the new objectivity“ (Danke @oetting für den Tipp!)