Rekonstruktion des gestrigen Nachmittags aus meiner subjektiven Sicht.
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Ein Gastbeitrag von Robert Kindermann*
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Kurz vor 19 Uhr kam eine DPA-Meldung über den Account von
@msbrains in mein Twitter-Feed. Die Schlagzeile „Explosion in französischem
Atomkrafwerk“ ist nicht gerade etwas, das man lesen will. Ich suchte
und fand zumindest weitere französischsprachige Kurz-Meldungen über
die Twitter-Suche. Kurze Zeit später postete ich das erste Foto, das
ich über die Nachrichtenseite @LesNews fand. Leider
verpatzte ich hier die Quellenangabe, reichte diese jedoch schnell
nach.
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Von da an stand mein Handy nicht mehr still. Jeder Retweet wurde mit
einem Bling quittiert. Trotzdem waren über Minuten keine weiteren
Informationen verfügbar und es stand im Raum, dass da gerade ein AKW
in Frankreich brennt. Meine Tweets rasten durch das Netz. Ich hatte
kein gutes Gefühl dabei – es waren einfach kaum Quellen zu finden.
Immerhin tauchten dann weitere kurze Artikel auf, die ich durch den
Google Übersetzer jagte und weiterverbreitete.
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Schnell wurde #tricastin zum weltweiten Trending Topic bei Twitter und
ich bin fast durchgedreht weil keine Informationen zu bekommen waren.
Selbst die französischen Medien hielten sich extrem zurück. Der
Staatssender France24 hatte die kurze Meldung scheinbar sogar aus dem
RSS-Feed von AFP, der auf der Homepage france24.com einläuft,
rausgenommen. Über Google News war die AFP Meldung zu finden. Im
Live-Stream von France24 wurde die Meldung im Nachrichtenüberblick mit
zwei Sätzen (!) eingeordnet.
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Ich fühlte mich über lange Zeit extrem schlecht informiert und extrem
verunsichert. Die Bilder von Fukushima im Kopf (der Screenshot mit der
Eilmeldung von Zeit Online auf meinem iPhone vom 11. März um 11:11 Uhr
ist in meinem Handy gespeichert) wollte ich einfach wissen, was da zur
Hölle los ist. Die zwei Fotos, die bis heute als einzige mögliche
Quelle verfügbar sind, sehen nicht unbedingt beruhigend aus.
Heute verstecken sich einige Journalisten hinter der Feststellung,
dass doch nichts weiter passiert sei. Keine Verletzten, keine Toten,
keine Schäden für die Umwelt und keine austretende Radioaktivität. Das
alles sind Informationen des zuständigen Betreibers. Was wir von
solchen Informationen halten können, haben wir nun mittlerweile
gelernt. Explosion, Feuer und Rauch auf dem Gelände eines
Atomkraftwerks. Im Ernst – was braucht es noch um eine Meldung zu
schreiben?
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Es geht um das Verständnis des Journalismus in dieser neuen
digitalisierten Welt. Journalisten und Medien sind nicht mehr die
Gatekeeper von Informationen. Da ist es ein Irrsinn zu sagen, dass die
Verantwortung aufhört wenn bei einer Explosion auf dem Gelände eines
AKW nichts passiert ist. Wenn hunderte oder gar tausende
Twitter-Nutzer verunsichert sind, es vielleicht bei Facebook, Google+
und ihren Blogs verbreiten, sind Journalisten gefordert. Dann ist es
die (bezahlte) Aufgabe dieser Berufsgruppe rauszufinden, ob sich
unsere Gesellschaft sorgen muss oder nicht.
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Seit Jahren suchen Journalisten ihre Rolle im Internet – also in der
digitalen Welt. Wobei die Suche subjektiv gefühlt vor allem auf das
Finden neuer Einnahmequellen beschränkt ist. Dass die Verantwortung
jedoch weit größer ist, als sie es zuvor vielleicht war, scheint noch
nicht in jeder Redaktion angekommen zu sein. Ich schreibe es nochmal:
Es gibt keinen Informations-Gatekeeper mehr. Früher waren das
Regierungen, dann waren es Zeitungen, später „die Medien“. Jetzt sind
nicht nur Gedanken, sondern auch Information frei. Da braucht es mehr
denn je Einordnung – auch wenn nichts passiert ist.
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Tausende Online-User waren gestern verunsichert, fanden kaum
zuverlässige Informationen zu einer wirklich brisanten Schlagzeile,
die sich in einer immensen Schnelligkeit im Netz verbreitete. Sie
fühlten sich hilflos. Als Kunden großer Nachrichtenportale fühlten sie
sich nicht ausreichend informiert. Keine mir bekannte Redaktion ließ
ihre Leser Teil an den Recherchen haben. Ein Tweet wie „Wir haben das
mitbekommen. Wir recherchieren hinterher. Es sieht derzeit danach aus,
dass keine Gefahr für die Umwelt besteht. #tricastin“ besteht aus 138
Zeichen. 138 Zeichen, die viele Menschen beruhigt hätten. So gab es
lange gar nichts. Und wieder haben sich einige Nutzer – davon bin ich
zutiefst überzeugt – vertrauensvoll ihren klassischen
Nachrichtenangeboten abgewendet.
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Warum arbeiten wir nicht mit diesen grandiosen, neuen Tools, die uns
zur Verfügung stehen? Es ist nicht die Aufgabe von Twitter-Nutzern die
Welt zu informieren. Es bleibt nur keine Alternative solange die
Augen so verschlossen werden vor den neuen Möglichkeiten des Netzes.
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*Robert Kindermann arbeitet für 1LIVE (WDR) und hat in seinem Blog
(www.wir-muessen-twittern.de/blog/) gerade keinen Platz, da er dort
1000 Ideen in 1000 Tagen veröffentlich will. Woran er allerdings
selbst nicht so ganz glaubt. Dieser Beitrag spiegelt ausschließlich
seine privaten Ansichten wieder.

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19 Kommentare
  1. […] Update: Lesen Sie auch den Gastbeitrag von meinem WDR-Kollegen Robert Kindermann: Wie ich zur Quelle wurde und mich unwohl fühlte […]

  2. Pierre Dumaine schreibt:

    In wie weit ist eigentlich der Gedanke abwegig, dass insbesondere in Frankreich die großen Redaktionen von Politik und Industrie beim Thema „Atomkraft“ gedeckelt werden? Schließlich ist bei 80% Atomstromanteil im Netz ist die Brisanz bei solchen Vorfällen womöglich deutlich größer als hier.

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