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Das Twitter-Foto ging um die Welt: Ein Mann steht am Bahnsteig und schaut nicht auf sein Handy! Wer ist der Typ? Was treibt ihn an? Was glaubt er, in der realen Welt zu entdecken? Fragen wir doch den Fotografen.

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Ein Foto verbreitet sich seit Tagen wie ein Lauffeuer im Internet und stellt die Netzgemeinde vor ein Rätsel: Eine Gruppe Pendler steht am Bahnsteig. Die Leute tun das, was man so tut, wenn man auf den Zug wartet – sie starren auf ihr Smartphone. Doch halt! Was ist das? Ein Mann in weißem Hemd hält seine Arme verschränkt und starrt ins Leere. Einfach so! Kein Smartphone. Kein Bildschirm. Keine Datenbrille. Er schaut in die Welt. Die wahrhaftige, von Google und Facebook ungefilterte Welt! Was ist da los? Wer ist dieser Typ? Was treibt ihn an?

Entstanden ist dieses Zeitdokument am 6. Februar an einem Bahnsteig in einem Vorort von Sydney. Das Foto stammt von Cameron Power, der von sich behauptet, er sei eher zufällig Zeuge dieser unwirklichen Szenerie geworden. Ohne lange nachzudenken habe er instinktiv auf den Auslöser seines Smartphones gedrückt und den Moment für die Nachwelt festgehalten. „Was in der Welt ist nur los mit diesem Kerl!“, twittert er im Begleittext zu seinem Werk. „Was sieht er sich nur an? – Die Welt?“.

Experten zweifeln inzwischen an der Echtheit der Aufnahme. In der heutigen Zeit sei es nahezu unmöglich, überhaupt noch einen Menschen anzutreffen, der NICHT gerade auf irgendeinen Bildschirm starrt. Als ob es irgendeinen Grund gebe, der realen Welt Beachtung zu schenken! Renommierte Photoshop-Künstler, die sich u.a. für ihre Wahlplakate von Angela Merkel einen Namen gemacht haben, sind sich einig: „Wenn hier ein Fälscher am Werk war, dann muss das ein Profi gewesen sein“.

Dank knallharter, investigativer Recherche (= googlen), ist es mir gelungen, den Paparazzi im Netz ausfindig zu machen. Cameron, 30, aus Sydney antwortet mir, er habe den handylosen Kerl auf dem Bahnsteig erst im Nachhinein entdeckt, als er sich das Foto später angesehen habe. Dass sein Bild via Twitter und Facebook um die Welt gegangen ist, habe ihn total überrascht: „Viele Betrachter erkennen sich in dem Bild wohl selbst. Nicht als die Person, die da einfach nur so vor sich hin starrt, sondern als eine dieser seelenlosen Handy-Zombies.“  Komisch und irgendwie deprimierend zugleich.

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7 Fragen an den Fotografen Cameron Power

 

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Wann hast Du das Bild gemacht?

Das Bild entstand Donnerstag morgens um 8 Uhr 10 am Bahnsteig Petersham Station. Petersham ist ein Vorort westlich von Sydney, wo ich schon seit einigen Jahren lebe. Es ist kein besonders großer Bahnhof, man sieht tagtäglich die selben Pendler dort in den Zug einsteigen; meist wählen sie dabei nicht nur den selben Zug, sondern auch den selben Waggon, sogar den selben Sitz wie am Vortag. Wie die meisten anderen war auch ich an dem Morgen auf dem Weg in die Arbeit, habe auf den 8:12 Uhr Zug in die Stadt gewartet. Vermutlich sah ich selbst gar nicht anders aus, als die anderen Leute auf dem Bild, bevor ich das Foto machte.

Kanntest Du den Typen ohne Handy?

Ich habe nicht den leistesten Schimmer, wer er ist. Leider. Anfangs hatte ich ihn überhaupt nicht wahrgenommen. Erst später, als ich mir das Bild dann nochmal angesehen habe, fiel er mir auf. Deshalb habe ich mich spontan entschieden, ihn rot einzukreisen.

Hat er mit Dir Kontakt aufgenommen, nachdem das Bild überall viral herumging?

Ich weiß nicht, ob er das Bild gesehen hat, obwohl es natürlich gerade hier in Sydney von unzähligen Menschen über Twitter und andere Netzwerke verbreitet wurde. Ich gehe mal davon aus, dass er es inzwischen kennt. Um ehrlich zu sein mache ich mir ein wenig Sorgen, dass er eines Tages auf mich zukommt und mich zur Brust nimmt. Könnte natürlich auch sein, dass er stolz auf das Foto ist. Keine Ahnung.

Tweet Platform GuyWarum glaubst Du wurde dieses Foto auf der ganzen Welt geteilt?

Nun, ich denke mal die Leute amüsieren sich über die Ironie, die auch dadurch verstärkt wird, dass ich im Begleittext so tue, als sei mit dem Kerl irgendwas nicht in Ordnung. Tausende von Leuten haben mit ihren eigenen Scherz-Kommentaren auf das Foto geantwortet, was wirklich großartig ist. Andere haben die Ironie nicht verstanden. Wobei ich glaube, das Bild allein für sich spricht Bände. Es illustriert eine Entwicklung, die sich mittlerweile auf der ganzen Welt beobachten lässt: Menschengruppen in Städten, in Zügen, in Gaststätten, in Schulen – alle mit gebeugtem Kopf, die Augen starr auf ihre Geräte gerichtet. Was man den vielen Antworten auf das Bild entnehmen kann, sind die Menschen gleichermaßen entzückt, deprimiert und ein Stück weit auch schockiert über das Bild. Viele von ihnen erkennen sich selbst darin, und zwar nicht als den Typen, der da einfach nur so vor sich hin starrt, sondern als einen von diesen seelenlosen Handy-Zombies.

Würdest Du von Dir selbst sagen, Du gehörst zu diesen Handy-Zombies? 

Oh ja, durchaus! Wie die meisten Menschen greife ich fast schon reflexartig zum Telefon, wenn ich gerade einen freien Moment habe. Oft nehme ich das Ding sogar mit auf die Toilette. Ich benutze es mittlerweile für soviele Dinge, dass es manchmal schon ein bisschen lächerlich wird. Neulich zum Beispiel ertappe ich mich dabei, wie ich gerade einen Artikel auf meinem Smartphone lese, während ich mit der anderen Hand krampfhaft die Tasche nach meinem Telefon absuche. Irre.

Ein Leben ohne Smartphone – könntest Du Dir das überhaupt noch vorstellen?

Weißt Du was? Ja, das könnte ich. Den überwiegenden Teil meines Lebens verbrachte ich ohne Smartphone. Die kamen erst später. Ich kann mich sogar noch erinnern wie ich anfangs sagte: „Pffft! Wozu brauche ich E-Mails und Internet, wenn ich unterwegs bin?“ – und hier bin ich: Einer von denen! Ich liebe diese Science-Fiction-Filme und Serien, wenn Außerirdische die Erde lahmlegen und sich die ganzen Wohlstands- und Technik-isolierten Menschen zusammentun müssen, um zu überleben.

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Sicher kennst das Schwarz-Weiß-Bild aus dem Jahr 1946, auf dem sich die Menschen über Zeitungen beugen. Hältst Du den Vergleich mit Deinem Bild für legitim?

Du meinst mal abgesehen davon, dass es sich um eine klassische, historische Fotografie handelt, im Vergleich zu einem lausigen low-res-Handy-Bild? Man könnte daraus durchaus etwas ähnliches herauslesen. Eine Person, die aus der Menge herausragt und auf die Welt um sich herum blickt mit besorgter Miene, umringt von lauter „infovores“ („Informationsjunkies“). – „Infovores“, meine Mum brachte mir dieses Wort einmal bei. Ich selbst habe davon noch nie gehört,  offenbar  wurde es  erst vor kurzem offiziell ins Wörterbuch aufgenommen.

…ach, meine Mum! Das hat sie sicher wieder irgendwo auf ihrem iPad gelesen.

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30 Kommentare
  1. […] German text version […]

  2. […] via Gutjahr […]

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