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Trollen ohne Internet

In seiner hessischen Heimatstadt Marburg ist der pensionierte Metzgermeister Franz Becker bekannt wie ein bunter Hund. Als Humanist bezeichnen ihn die Einen, als Querulant und Unruhestifter die Anderen. Becker ist ein politisch interessierter Staatsbürger. Und weil er weder Handy noch Internet besitzt, hat er seinen Laden in der Marburger Altstadt kurzerhand zu seinem Facebook gemacht. Wann immer ihn etwas in der Welt besonders aufregt, „postet“ er mit Schildern vor dem Schaufenster der ehemaligen Metzgerei in deutlichen Worten seine Meinung. Zum Irak-Krieg, zum Nahost-Konflikt und aktuell zum NSA-Überwachungsskandal.

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Kein Facebook aber ein Schaufenster

Als ich bei Twitter auf ein Foto seines neuesten Threads gestoßen bin, habe ich zum Telefon gegriffen und ihn angerufen. Denn: Auch wenn seine Protest-Schilder nicht direkt über eine Kommentarfunktion verfügen, so hat er doch immerhin seinen Namen und seine Telefonnummer darauf angegeben. „Damit man mit mir Kontakt aufnehmen kann, sollte jemand mit dem Inhalt nicht einverstanden sein – oder vielleicht sogar damit sehr einverstanden sein“, so der 81-Jährige am Telefon.

Fast eine Stunde haben wir über seine mitunter extremen Positionen, seine Kindheit in der Hitler-Jugend und die gesellschaftlichen Folgen der Überwachung gesprochen. Bei der Abschrift handelt es sich, der besseren Lesbarkeit zuliebe, um eine gekürzte Fassung des Telefonats:

 

BeckerGuten Morgen Herr Becker. Warum haben Sie dieses Schild aufgestellt? 

Was mich motiviert hat, ist die Untätigkeit unserer Kanzlerin. Dieses Unterwürfige und Duckmäuserische von der Chefin eines souveränen Staates, der ja doch eine gewisse wirtschaftliche Relevanz hat. Das ist für mich der Hauptpunkt meiner Kritik. Freundschaft – oder auch nur eine Interessengemeinschaft – ist auf so einer Basis überhaupt nicht möglich. Vertrauen ist einfach die Grundlage allen Handelns.

Ihnen geht es dabei nicht um den aktuellen Spionage-Skandal sondern vor allem um die Überwachung der Bevölkerung. Wieso? 

Weil ich mich in gewisser Weise verraten fühle, dass unsere Kanzlerin zwar ihre Interessen und die ihrer Behörden vertritt, nicht aber die ihrer Bürger. Dieses Einfach-auf-sich-beruhen-lassen, das gehört ja zur Merkel-Politik. Das stört mich unheimlich!

Der Bevölkerung scheint’s egal zu sein. Warum glauben Sie ist das so?

Ich denke das hängt mit unserem Wohlstand zusammen. Den meisten Leuten geht es ja im Großen und Ganzen ganz gut. Solange wie die Lebensgrundlagen vorhanden sind, werden die Deutschen nicht auf die Straße gehen. Dann kommt dazu, dass wir ein Stück weit die Haltung aus dem Kaiserreich in uns tragen, dieser „Untertanen“-Geist.

Aber uns geht es ja tatsächlich vergleichsweise gut in Deutschland. Warum gegen Überwachung ankämpfen?

Erst Jahrzehnte später wurde klar, was das mit uns gemacht hatte

Ich bin 81 Jahre alt. Ich habe die Nazi-Zeit als Kind erlebt und habe am eigenen Leibe erfahren, wie die Gleichschaltung einer Gesellschaft erfolgt. Ich war bei Kriegsende zwölfeinhalb Jahre alt und selbst zwei Jahre beim sogenannten Jungvolk. Der Überwachungsterror machte nicht einmal vor uns Kindern halt. Wenn wir nicht konform waren oder wenn wir aufgemuckt haben, dann mussten wir zum Bandenführer. Das ist mir zwei mal passiert, da war ich elf oder zwölf Jahre. Erst im Nachhinein, Jahrzehnte später, ist mir überhaupt erst klar geworden, was das mit uns gemacht hat. Dass man nicht mehr das sagt oder tut, was man eigentlich denkt, sondern dass man, wenn überhaupt noch, hinter vorgehaltener Hand agiert.

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Wie macht sich das im Alltag bemerkbar?

Das konnte man gut nach dem Krieg beobachten, zum Beispiel an den Erwachsenen, wenn sie sich unterhielten. Die haben sich zuerst immer umgedreht, um zu gucken, ob jemand mithört. Sie kennen vielleicht noch dieses Plakat: „Achtung! Feind hört mit!“. Das hing damals an jeder Straßenecke. Damit wollte man natürlich verhindern, dass irgendwer irgendwelche Geheimnisse preisgab. Aber langfristig hat das auch dazu geführt, dass die Leute sich auch untereinander nicht mehr vertraut haben. Dass man sich immer beobachtet fühlen musste. So etwas verändert eine Gesellschaft.

Man verhält sich anders, wenn man weiß, dass man überwacht wird?

Auf jeden Fall. Wenn Sie genau darauf achten, können Sie das auch an sich selbst feststellen.

Was halten Sie von Edward Snowden?

Wie man mit diesem Mann umgeht ist eine Sauerei! Das ist unwürdig. Wenn deutsche Politiker behaupten, der Mann könne uns nichts Neues sagen, nur, um ihn nicht einladen zu müssen, dann ist das einfach nur Stiefelleckerei vor den Amerikanern. Unsere Kanzlerin könnte sich unsterblich machen, wenn sie sagen würde, auch gegen den Willen unserer sogenannten Freunde: „Herr Snowden kommt nach Deutschland!“ – das wäre etwas, wovor ich Achtung hätte.

Vor was glauben Sie hat die Regierung Angst?

Das frage ich mich auch. Die Weltwirtschaft ist mittlerweile dermaßen vernetzt, da kann ohnehin nicht viel passieren. Und wenn die Amerikaner da mal verschnupft sind, dann spielt das keine Rolle mehr. Ob der US-Regierung das passt oder nicht. Dieses Verhalten gegenüber einem Mann, der das alles ins Rollen gebracht hat, dem man eigentlich dankbar sein müsste, das ist unwürdig! Für die USA wie für Deutschland. Als das rauskam habe ich meinen Lieferwagen mit Protest-Plakaten beklebt. Damit fahre ich heute noch durch die Stadt.

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Haben Sie nie Ärger bekommen deshalb?

Oh doch! Ich bin schon ein paar mal von der Polizei angehalten worden. Erst habe ich gedacht, ich sei nicht angeschnallt gewesen. Dann sagten die Polizisten, nein, es sei wegen der Plakate. Auf denen bezeichnete ich die Amerikaner unter anderem als Staatsterroristen. Eine direkte Aufforderung zur Volksverhetzung, meinte einer der beiden Polizisten und drohte mit Konsequenzen.

Wie ging das dann weiter? 

Ich bin dann sofort in die Polizeidirektion gefahren und habe mich zwei Stunden mit dem Vorgesetzten unterhalten. Dabei habe ich auch erwähnt, dass ich publik machen werde, dass ich daran gehindert werde, meine Meinung frei zu äußern. Damit hat er sich dann quasi weichklopfen lassen.

Die Drohung mit der Öffentlichkeit hat Sie geschützt? 

Genau. Deshalb mache ich ja alles, was ich mache, öffentlich. Weil ich festgestellt habe, dass Beamte oder Leute in bestimmten Positionen nichts mehr fürchten, als negative Öffentlichkeit.

Halten Sie sich für mutig? 

Ach was! Ich gebe Ihnen ein Beispiel für Mut: In meiner Schulzeit hatten wir einen Lehrer, der mich mein ganzes Leben geprägt hatte. Er war der Einzige, der sich gegen die Nazi-Herrschaft auflehnte. Anstatt jedes Mal aufzuspringen und „Heil Hitler“ rufen zu müssen, wie das bei den anderen Lehrern üblich war, sagte er zu Beginn der Stunde: „Setzt Euch Kinder und lasst uns beten!“. Da hat er dann jeden Morgen mit uns gebetet. Das hat den anderen Lehrern überhaupt nicht gepasst. Er wurde von der Gestapo vorgeladen und aufgefordert, sein Verhalten zu ändern. Er hat das nicht gemacht. Wenn ich heute wieder an diesen Lehrer denke, dann kommen mir die Tränen. Weil er für seine Sache eingestanden ist, unabhängig davon, was man über ihn gedacht hat.

Amerika – das war der Fixstern für alle Verfolgten in der Welt

Sie sind extrem Amerika-kritisch, obwohl die Amerikaner uns Deutsche doch von der Nazi-Herrschaft erlöst haben. Wieso?

Amerika – das war mal der Fixstern für alle Verfolgten in der Welt. Menschen, egal woher, konnten dort ihren Lebenstraum verwirklichen, konnten frei und unbekümmert leben. Das ist heute nicht mehr der Fall. Amerika ist wie Deutschland zu einem Überwachungsstaat geworden. Mit dem Amerika von einst hat dieses Land überhaupt nichts mehr zu tun. Der 11. September war tragisch, ja, das wird aber auch dazu benutzt, die Menschen künstlich zu verängstigen.

Wie reagieren die Leute auf Ihr Schild? 

Nicht immer positiv. Manche Leute sagen: Warum machst Du das? Meine eigene Tochter beschwert sich oft, ich sei zu kritisch. Die sagt dann: „Du kannst ja sowieso nichts dran ändern!“

Was antworten Sie Ihrer Tochter?

Doch! Ich kann was ändern. Wenn auch nur ein einziger Mensch, der an dem Schild vorbeikommt, ins Grübeln kommt und sich sagt, Mensch, vielleicht hat der Mann ja Recht, dann habe ich doch schon was erreicht.

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12 Kommentare
  1. Ugo Arangino schreibt:

    Habe gestern etwas in meinem Blog geschrieben was ganz gut dazu passt:

    Wieso Geheimdienste meine Freiheit einschränken? Weil ich weiß das ich überwacht werde und in Angst leben muss und deshalb automatisch nicht mehr so lebe wie ich es sonst tuen würde.

    Naja, ich fang mal am Anfang an. Ich schaue gerne Action Filme wenn ich mich entspannen will. Und da ich die neugierigste Person bin die ich kenne stelle ich mir während eines solchen Filmes ganz viele Fragen. Diese lass ich mir meistens von Google und Wikipedia beantworten. Passend zu Action Filmen aus Amerika tauchen dann Stichwörter wie: Air Force One, Oval Office, Marshal Service, CDC (Zentren für Krankheitskontrolle und Prävention), Antrax, Pocken, Unabhängigkeitserklärung … an.

    Da ich weiß das die Geheimdienste „Präventiv“ alles Überwachen und Filtern überlege ich mir doppelt ob ich nach Inhalten aus den Filmen google um sie besser zu verstehen und mich somit wohlmöglich verdächtig mache, oder ob ich es lasse.

    Dazu möchte ich kurz die Geschichte von einer Frau erzählen: Sie hat online eingekauft, eine Bratpfanne und Dünger aus dem Blumenmarkt. Halt was man so zuhause braucht. Da diese beiden Sachen geeignet sein sollen um eine Bombe zu bauen haben die Filter der Geheimdienste reagiert und die Frau wurde vorläufig als Terrorverdächtige verhaftet.

    So, jetzt wisst ihr wieso die Geheimdienste meine Freiheit einschränken!

    • auweia schreibt:

      Last uns alle Bratpfannen und Dünger kaufen!

  2. Ugo Arangino schreibt:

    Und was auch noch etwas dazu passt ist ein Satz den ich in den letzten Wochen irgend wo im Internet gelesen habe: „Der 11. September ist für die Geheimdienste das, was für Hitler der Reichstagsbrand war.“

    Ich möchte denn Satz für sich stehen lassen, und es soll auch kein Hitler vergleich sein, nur etwas was ich im Internet gelesen habe und woran ich beim der drittletzten Antwort denken musste.

    • Richard schreibt:

      Hallo Ugo, ich tue mir mit Nazi-Vergleichen prinzipiell schwer. Man kann damit nur daneben liegen, weil so etwas niemals den Opfern gerecht wird. Unabhängig davon glaube ich, dass hier bewusst mit der Angst gespielt wird. Dass der abstrakte Begriff „Terrorist“ muss für alles herhalten, um weitere Überwachungsgesetze durchzubekommen. Das Ausmaß dieser systematischen Überwachung zeigt, dass sich das System längst verselbständigt hat und es schon lange nicht mehr um Terrorismus geht, sondern um Macht und Kontrolle. Und vermutlich auch um den einen oder anderen lukrativen Spionage-Rüstungs-Auftrag.

Willkommen!