Facebook weiß, wann du deine Tage hast. Google speichert, welche Porno-Seiten du im Netz aufrufst. Weil die staatliche Kontrolle versagt, übernimmt Apple die Rolle des obersten Datenschützers und erklärt dem Überwachungskapitalismus den Krieg. Kann das gutgehen? 

Es begann mit einer Frage. Einer simplen Ja- oder Nein-Frage, die das Silicon Valley wie ein Erdbeben erschütterte und die an der Wall Street mit einem Schlag Milliardensummen vernichtet hat. Eine Frage, die bislang niemand seinen Nutzern offen stellen wollte und vor deren Antwort sich die gesamte Tech-, Medien- und Werbeindustrie seit Jahrzehnten fürchtete. Diese Frage lautete: 

Möchtest Du getrackt werden?

Genau ein Jahr ist es her, dass Apple seine Ankündigung wahr machte und einer Multimilliarden-Dollar-Industrie den Krieg erklärte. Mit Einführung der App Tracking Transparency (ATT) im Betriebssystem für iPhone und iPad stellt Apple seit Mai 2021 seine Kunden beim Öffnen einer neuen App vor die Wahl: Darf eine App die Aktivitäten ihrer Nutzer quer durch das Internet erfassen, also auch, wenn die jew. App gerade nicht benutzt wird?

Mit iOS14.5 schränkt Apple das heimliche Abfischen von Nutzer-Daten auf Wunsch ein

Cook, Zuck und das Game of Phones

ATT schlug ein wie eine Bombe. Es sprengt das Fundament, auf dem die größten Internet-Pioniere ihr Imperium errichtet hatten. Ein winziges Update nur im Code von iOS und iPadOS, das die Geschäftsmodelle der Rivalen gefährdet. Ein Affront gegenüber Facebook, eine Kampfansage an Google, Apples ausgestreckter Mittelfinger in Richtung seiner Nachbarn in Menlo Park und Mountain View.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: In ganzseitigen Anzeigen erhob Facebook schwere Vorwürfe gegen Apple. Der iPhone-Konzern würde kleine und mittelständische Unternehmen ruinieren, weil diese sich ohne freien Zugang zu den Nutzerdaten keine zielgerichtete Reklame mehr leisten könnten. Apple konterte, indem CEO Tim Cook persönlich in Washington und Brüssel vorsprach und sich dort als selbstloser Datenschützer inszenierte.

Apple weitet seine Privacy-Kampagne aus mit neuen Spots auf YouTube und im TV

Too big to regulate?

Es sagt viel über den Zustand der Politik, dass ausgerechnet Apple, ein Industriegigant mit höchst eigener Agenda, die Rolle des staatlichen Regulierers übernimmt und das tut, wozu Washington und Brüssel offensichtlich nicht mehr in der Lage sind: dem heimlichen Abfischen von sensiblen Nutzer-Daten einen Riegel vorzuschieben und die grenzenlose Schnüffelei einer völlig außer Kontrolle geratenen Überwachungsindustrie in die Schranken zu weisen.

Dass Apple das nicht aus reiner Nächstenliebe tut, liegt auf der Hand. Anders als Google oder Facebook erwirtschaftet der iPhone-Konzern den größten Teil seiner Gewinne nicht mit Daten, sondern durch den Verkauf von Hardware. Gerne hätte ich Tim Cook in diesem Zusammenhang einmal gefragt, wie er es mit dem Datenschutz in China hält, Apples wichtigstem Handelspartner – nicht nur für die Produktion, sondern immer mehr auch als Absatzmarkt für seine iPhones. Aber das ist ein anderer Blogpost.

Rund 80 Prozent der iPhone-Nutzer lehnen Tracking ab

Wir wissen, welche Porno-Seiten Du besuchst

Dabei sind die Bedenken, die Apple vorbringt, berechtigt: Ob Wetterdienste, Landkarten oder News-Angebote, viele Apps und Social-Media-Dienste, die wir täglich nutzen, sind nichts weiter als trojanische Pferde. Heimlich lesen sie unsere Geräte aus, senden Unternehmen und Datenbrokern von früh bis spät unseren Aufenthaltsort, unsere Suchanfragen, sogar die Adressen der Webseiten, die wir aufrufen – kurz: unsere intimsten Geheimnisse und Gedanken. Und wir lassen und von den digitalen Großkolonialisten mit ein paar billigen Glasperlen abspeisen.

Viele Apps und Social-Media-Dienste, die wir täglich nutzen, sind nichts weiter als trojanische Pferde

Ein Doktorandenteam aus den USA hat 22.484 Porno-Webseiten untersucht und ermittelt, dass 93 Prozent von ihnen Tracker einsetzen. 74 Prozent der Webseiten sendeten Nutzerdaten an Google, immerhin 10 Prozent der Porno-Tracker stammten von Facebook. Korrekt, eben jenes Facebook, auf dem nackte Haut sogar in Kunstwerken Tabu ist und wo Bilder von stillenden Müttern schneller entfernt werden als Hakenkreuze oder der Aufruf zum Völkermord.

Seit seiner Gründung hat Facebook unzählige, teils verheerende Datenschutz-Pannen einräumen müssen. Oft sind dabei Hunderte von Millionen Datensätze verloren gegangen. So hatte Facebook beispielsweise im April 2021 bestätigt, dass personenbezogene Daten, darunter auch die Handynummern und privaten E-Mail-Adressen von über 530 Millionen Facebook-Nutzern abhandengekommen sind. Schuld war eine Sicherheitslücke in der Software, die Facebook übersehen hatte.

Inzwischen schlagen Facebook-Mitarbeiter Alarm, die Kontrolle über unsere Daten verloren zu haben. In einem internen Bericht [PDF] vergleicht das Anzeigen-Team des Konzerns den gigantischen Datenpool, den man im Lauf der Zeit über seine 2 Milliarden Nutzer gesammelt hat, mit einem See, von dem man nicht mehr wisse, aus welchen Quellen er gespeist worden sei. Sollte diese von Facebook selbst verfasste Executive Summary zutreffen – einen größeren Verstoß gegen die Datenschutzgrundverordnung könnte es kaum geben.

Interner Facebook-Bericht: Wie bekommen wir die Tinte zurück in die Flasche?

Auf dieses interne Facebook-Dokument angesprochen, hat mir Facebook/Meta gestern folgendes vorbereitete Statement geschickt:

“Considering this document does not describe our extensive processes and controls to comply with privacy regulations, it’s simply inaccurate to conclude that it demonstrates non-compliance. New privacy regulations across the globe introduce different requirements and this document reflects the technical solutions we’re building to scale the current measures we have in place to manage data and meet our obligations.”

„A Meta Spokesperson“

Ich hab ja nix zu verbergen!

Einer der dümmsten Sätze, die im Zusammenhang mit Datenschutz immer wieder fallen, lautet: „Ich habe nichts zu verbergen“. Kein Mensch ist so rein, dass er nicht irgendwann mal etwas im Leben getan hat, was ihm bei Bekanntwerden in Schwierigkeiten bringen könnte, sei es beruflich oder privat. Fehler sind menschlich, sie gehören zum Leben. Selbst Dinge, die gestern vielleicht noch gesellschaftlich akzeptiert waren, könnten einem eines Tages zum Verhängnis werden.

Und manchmal ändert sich auch die politische Stimmung in einem Land. In den USA erleben wir gerade, wie das Recht auf Abtreibung, das fast ein halbes Jahrhundert lang verfassungsrechtlich garantiert war, abgeschafft werden soll. Frauen sollen kriminalisiert werden, wenn sie selbstbestimmt über ihren Körper entscheiden wollen. 

So hat Oklahoma gerade ein Gesetz verabschiedet, das Abtreibungen bereits ab dem Moment der Befruchtung unter Strafe stellt. In Texas gibt es seit 2021 ein Kopfgeld für Tippgeber, die Abtreibende – und ihre Helfer! – an staatliche Behörden melden und vor Gericht bringen. Ein neues Geschäftsmodell für Facebook, das übrigens auch Daten aus Menstruations-Kalender-Apps von Teenagern und Frauen abgreift?

Datenschutz-Skandale bei Facebook mit oft Hunderten Millionen Betroffenen

Daten = Macht über Menschen

Daten bedeuten Macht und Macht korrumpiert. Wenn wir Deutsche eines aus der Geschichte gelernt haben, dann doch hoffentlich, dass zu viel Macht in den falschen Händen selten ein gutes Ende nimmt. Insofern könnte es vielleicht helfen, dass wir in Zukunft, wenn wir über Datenschutz diskutieren, das Wort „Daten“ einfach mal durch den Begriff „Menschen“ ersetzen. 

Im Zeitalter des Überwachungskapitalismus ist Datenschutz vor allem auch Menschenschutz. Sollte Mark Zuckerbergs Vision von einem Metaverse Realität werden und wir allesamt nur noch aus Datensätzen bestehen, spätestens dann sollten wir uns die Frage stellen:

Würden Sie diesem Mann Ihr Leben anvertrauen?

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