Letzte Woche hatte ich ein Aha-Erlebnis. Eine Art digital-kulturellen Weckruf, der mich erschaudern ließ. Ich schaute meinem Sohn über die Schulter, der gerade über ein TikTok-Video lachte. In dem Clip ist der Hollywood-Star Tom Cruise zu sehen, wie er gerade mit einem Wischmop eine Kantinenküche reinigt. Das Problem: Bei dem Video handelt es sich um einen sogenannten Deep Fake, eine computermanipulierte Täuschung, die so echt erscheint, dass man nicht einmal beim genauen Hinsehen erkennen kann, dass es sich um eine Fälschung handelt.

Auf TikTok explodieren gerade die Kanäle, auf denen Prominente verrückte Dinge tun. Das wirklich Verrückte daran: Für meinen Sohn ist diese Welt „echt“. Bis letzte Woche kannte mein Sohn Tom Cruise gar nicht. Seine Reaktion, als ihm ihn einen Ausschnitt aus „Top Gun“ zeigte, spricht Bände: „Wow. Der Typ sieht dem TikTok-Mann ja wirklich krass ähnlich!“. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, wie er das meinte. Für meinen Sohn war der Schauspieler, also „Top-Gun-Tom-Cruise“ die Fälschung, und „TikTok-Tom-Cruise“, also der digital erzeugte Computer-Klon, das Original.

„Wir betreten ein Deep-Fake-Zeitalter“, hatten mich IT-Profis zuletzt immer wieder gewarnt. Inzwischen ist diese gefälschte alternative Realität bei mir zuhause angekommen. „In drei bis fünf Jahren wird alles, was Sie in den Sozialen Netzwerken gezeigt bekommen, Fake sein“, so die Prophezeiung aus dem Silicon Valley. Ist unsere Gesellschaft auf eine solche Zukunft vorbereitet? Eine Generation, die in einer um Aufmerksamkeit-buhlende Fake-Realität aufwächst, könnte schnell Probleme mit der realen Welt bekommen. Auch ältere Jahrgänge, für die Whatsapp schon eine Herausforderung ist, könnte eine solche Entwicklung überfordern.

Mein Sohn, der eine staatliche Grundschule in Israel besucht, hat seit diesem Jahr ein neues Schulfach. Es heißt „Avatar“, also digitaler Doppelgänger. Eine Stunde pro Woche üben die Kinder in Rollenspielen, sich in fiktionale Figuren hineinzuversetzen. Es soll die Fantasie der Kinder anregen und ihnen zugleich helfen, besser zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden zu können. In einem anderen Regel-Schulfach (es heißt „Gefühle“) lernen die Kinder Empathie. Wenn ich mir die Lehrpläne hier in Deutschland anschaue, frage ich mich immer öfter, wer eigentlich in der Realität lebt und wer in einer Scheinwelt.

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2 Kommentare
  1. Jost Listemann schreibt:

    Lieber Richard Gutjahr,
    auf einer Veranstaltung in Trutzigen im Jahr 2017 durfte ich dabei sein, als Sie damals schon journalistische Nachrichten vorgestellt haben, die aus der Maschine kamen und von menschlich erzeugten Texten nicht mehr zu unterscheiden waren. Jetzt findet das gleiche im den visuellen Medien statt – und sie haben völlig recht, dass wir darauf nicht vorbereitet sind. Vor zwei Tagen habe ich ein Webinar zum Thema „KI in der visuellen Kommunikation von PR“ gehalten und die größten Sorgen kamen beim Thema Deep Fake auf. Trotzdem: das so intensiv diskutiert wird ist auch ein gutes Zeichen. Ich versuche das in meinen Unterrichten und Workshops überall zu thematisieren, Motto: KI ist gekommen um zu bleiben, deal with it! Bin mal sehr auf die rp23 gespannt und die Diskussionen, die da laufen werden…Herzliche Grüße Jost Listemann

    • Richard schreibt:

      Ja, ich erinnere mich! Wie toll, dass wir immer mehr werden, die sich diesem Thema annehmen. Aufklärung ist so wichtig. Gerade vor dieser nächsten Ära, die uns da ins Haus steht! Beste Grüße, Richard

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