Zeitungen sterben, Online-Medien ringen um Erlösmodelle. 20 Jahre nach Erfindung des World Wide Web (1989) und 20 Jahre nach dem Fall der Mauer stehen viele Journalisten dem Internet und Sozialen Netzwerken noch immer skeptisch gegenüber. Dabei sind beide aufeinander angewiesen. Es wird Zeit, die Mauer zwischen Alten und Neuen Medien endlich einzureißen.

bannerwall2November 1989. Irgendwo in der Prärie von Wyoming sitzt ein 16jähriger Junge vor dem Fernseher. Er lauscht den Worten von Peter Jennings, Tom Brokaw und Dan Rather, die alle live aus Berlin berichten. Der Junge sieht Bilder aus seiner Heimat. Bilder von Fremden, die sich in den Armen liegen und gemeinsam feiern. Der Junge ist ergriffen von dem, was er da sieht. Er versteht noch nicht die Tragweite dieser Stunden, begreift aber sehr wohl, dass da gerade etwas Einzigartiges passiert. Der Junge bin ich.

Wenn ich heute, 20 Jahre später, die Bilder vom Mauerfall in Berlin sehe, denke ich unweigerlich an die Zeit zurück, in der ich Augenzeuge von Geschichte wurde, ohne selbst dabei gewesen zu sein. Das war der Moment, als der Entschluss in mir reifte, Journalist werden zu wollen. Eines Tages mal für andere Menschen zu berichten, ihnen sprichwörtlich meine Augen und Ohren zu leihen, Eindrücke zu teilen.

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Journalisten, das waren für mich wahre Helden. Kontrolleure der Macht, Verteidiger der Wahrheit, Kämpfer für das Gute. Heute denke ich anders. Viele Journalisten sind satt, faul und selbstgefällig. Sie beanspruchen die Deutungshoheit, ohne jemals von der Gesellschaft dazu legitimiert worden zu sein. Sie lieben es zu kritisieren, können es aber gar nicht haben, selbst kritisiert zu werden.

Wozu auch? Wir genießen allerhand Privilegien, werden meist hofiert, zu Empfängen eingeladen, kassieren üppige Gagen für all mögliche Nebentätigkeiten. Daran was ändern? Bloß nicht! Leser-Kommentare unter unseren zur Perfektion geschliffenen Leitartikeln? Wo kämen wir denn da hin!

Kein Wunder, dass sich gerade alt gediente Journalisten mit den Neuen Medien so schwer tun. Google, Facebook und YouTube ändern die Spielregeln. Plötzlich rückt das Publikum den Sendern und Verlegern auf die Pelle, Menschen tauschen sich untereinander aus, ohne den Umweg über die Massenmedien zu gehen. „Wir sind die Leser!“, skandieren sie über Twitter & Co. Eine echte Revolution, für wahr.

Nicht jeder, der einen Blog schreibt, ist ein guter Journalist. Aber unter Millionen von Hobby-Bloggern reichen ja schon ein oder zwei, um das Kräfteverhältnis zu ändern. Jeder einzelne Clip eines Hobby-Filmers, der auf YouTube gesehen wird, bedeutet weniger Einschaltquote für die etablierten Sender. Die Medien der Massen werden für die Massenmedien wahrhaftig zur Gefahr.

wall3Zeitungen sterben, Sender dünnen aus. Journalisten werden entlassen. Die Verleger schimpfen auf Google und meinen das Web. Der Gedanke, den Meinungsmarkt mit dem Publikum zu teilen, ist ihnen derart fremd, dass sie sich lieber auf die bösen Suchmaschinen und Nachrichtenportale einschießen als sich dem eigentlichen Feind zu stellen: dem Publikum.

Machen wir uns nichts vor: Journalismus ist keine Kunst. Journalismus ist ein Handwerk, das man lernen kann. Vor allem aber ist Journalismus eine Dienstleistung. Da stecken die Worte „Dienst“ und „Leistung“ drinnen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass viele von uns das über die Jahre vergessen haben. Ähnlich wie die Autokonzerne haben wir über Jahrzehnte am Markt vorbei geschrieben, uns auf unseren Lorbeeren ausgeruht, Innovationen vermieden.

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Brauchen wir überhaupt noch Journalisten? Und ob! Ich bin der Meinung sogar mehr denn je. Wer sonst soll die wachsende Flut an Informationen (dazu zähle ich auch immer mehr den User Generated Content) auswerten und auf seinen Wahrheitsgehalt prüfen? Wir brauchen Journalisten, die für uns Informationen checken. Die sich die Mühe machen, Quellen zu vergleichen und die sich nicht damit begnügen, an der Oberfläche zu fischen (= zu googeln), sondern die für uns tief in die Archive eintauchen.

Selektion, Verifikation und Analyse, das ist und war schon immer der USP von uns Journalisten. Das ist es, was uns von Bürgerjournalisten und Hobby-Bloggern unterscheidet. Das, und nur das wird es sein, wofür die Menschen auch eines Tages wieder bereit sein werden, Geld zu zahlen. Auch im Internet.

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Vor 20 Jahren, als in Berlin Geschichte geschrieben wurde, saß ein Junge in Wyoming vor dem Fernseher. Er lauschte den Worten von Jennings, Brokaw und Rather. Der Junge beschloss, selbst Journalist zu werden, um anderen Menschen seine Augen und Ohren zu leihen, Eindrücke zu teilen.

Mit den Neuen Medien haben wir nun die Möglichkeit, das Publikum am Kommunikationsprozess zu beteiligen: Kollaborativer Journalismus statt One-to-Many-Kommunikation, Dialog statt Missionierung. Nutzen wir diese einzigartige Chance, statt an alten Ost-West-Mustern (hier die Sender, dort die Empfänger) festzuhalten. Die Koexistenz von Profis und Amateuren. Für Journalisten von gestern eine Bedrohung. Für Journalisten von morgen ein Geschenk.

Es heißt, Journalismus sei der erste Entwurf von Geschichte. Lasst uns die Mauern einreißen und Journalisten, Blogger, Leser, Hörer und Zuschauer zusammen bringen. Lasst uns die Neuen Medien dazu nutzen, Kommunikationsgeschichte zu schreiben. Gemeinsam. Wiedervereint.

Nachtrag: Dazu passend hier das Streitgespräch von Arianna Huffington mit Mathias Döpfner auf dem Monaco Medien Forum vor wenigen Tagen:

Zitat Döpfner: „The crises of Media is a crises of journalism. (…) The journalists are not good enough.“ (Minute 41:00)

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17 Kommentare
  1. Bei der Verteidigung der Zeitung wird immer mit dem Top-Performern der Branche argumentiert. Den investigativen Journalisten (die eher im Promille-Bereich angesiedelt sind), den Top-Reportern (wie viele leisten sich die Medien heute noch) und der Kommentatoren-Elite (auch im Promille-Bereich angesiedelt). Diese winzig kleine Klientel wird benutzt, um vor allem das veraltete Business-Modell des Print zu verteidigen. Viel Kosten für Verwaltung (ca. 60%) und für Papier und Distribution.
    Die Kosten für den erstklassigen Journalismus sind da im Vergleich minimal. Dafür werden sich immer genug intelligente Menschen finden, die diese Kosten bezahlen. Gut für die Top-Performer im Journalismus (und da gehören irgendwann auch Star-Blogger dazu), schlecht für die Verleger – und Fernsehbetreiber…

  2. Saim Alkan schreibt:

    Was lange währt wird endlich gut. Corporate Blogging ist salonfähig geworden. Private Blogging schon längst. Es wird Zeit, daß Verleger dies erkennen und sich wandeln. @gutjahr Zeichen der Zeit erkannt. Sehr schön. Wieder ein Tropfen, der den Stein der Verlegerbranche höhlt.

Willkommen!