Durch die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung diesen Freitag wird die anlasslose Massenüberwachung in Deutschland massiv ausgeweitet. Wegen der Terroristen und Schwerstkriminalität, heißt es. Ein Etikettenschwindel. Neue Zahlen zeigen, dass die Behörden mit ihren Überwachungsmaßnahmen in Wahrheit ganz andere Ziele verfolgen.

 

Vorratsdaten_Maas
Gibt nur eine Erklärung: @HeikoMaas wurde gehackt. Nicht der Account. Der Minister.

 

Wir Bürger des 21. Jahrhunderts haben uns an Kommunikationsmittel wie Facebook, Twitter und WhatsApp längst gewöhnt. Dass wir durch die Nutzung dieser Kanäle unfassbar viele Daten produzieren, ist uns bewusst. Umso größer die Verantwortung unserer Politiker und Behörden, behutsam mit diesen Daten umzugehen. Das genaue Gegenteil ist der Fall.

 

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BEGRIFFSDEFINITIONEN

Bestandsdaten (-> WER?)

Name, Adresse, Telefonnummer, Bankverbindung, E-Mail-Adresse, ggfs. auch IP-Adressen, Passwörter von E-Mail- oder Cloud-Diensten, sofern diese beim Anbieter hinterlegt sind, sowie PIN-Nummern für den jeweiligen Telefon- oder Internetanschluss 

Verkehrsdaten (-> WO?)

Daten, die bei der Erbringung eines Telekommunikationsdienstes erhoben, verarbeitet oder genutzt werden. Dazu zählen vor allem die Standortdaten bei Mobilfunkgeräten 

Vorratsdaten (-> WER, WANN, WO, WIE LANGE, MIT WEM?)

Rufnummer, IP-Adresse, Zeitpunkt, Dauer von Telefon- oder Datenverbindungen, Aufenthaltsort (bei Mobilfunk) – keine Inhalte 

Telekommunikationsüberwachung (WAS?)

Erfassung und Auswertung von E-Mail-Inhalten, Text-Nachrichten, Datenverkehr (abgerufene Webseiten, verschickte Daten), das Abhören von Telefonaten

 

Mit der Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung (Neusprech: „Höchstspeicherfrist“) will die Große Koalition den Polizeibehörden künftig 4 Wochen Zugriff auf die Aufenthaltsorte aller Bundesbürger ermöglichen. Und das nicht nur, wenn Gespräche getätigt oder SMS verschickt werden. Es handelt sich um eine lückenlose 24-Stunden-Erfassung aller Standortdaten unserer Handys und Smartphones.

Informationen darüber, wer, wann, wo, wie lange mit wem gemailt, getextet oder telefoniert hat, werden 10 Wochen gespeichert. Auch die Verbindungsdaten sog. Berufsgeheimnisträger, also von Ärzten, Anwälten und Journalisten sollen dabei erfasst werden. Eine Auswertung dieser Daten dürfe nur bei „schweren Straftaten“ erfolgen, so der offizielle Gesetzentwurf [PDF].

Doch was genau ist eigentlich eine „schwere Straftat“?

 

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Vor wenigen Tagen sind die neuen Zahlen zur Telekommunikations- und Verkehrsdaten-Überwachung veröffentlicht worden. Reichlich spät. Für gewöhnlich werden diese Zahlen bereits im Juli bekannt gegeben. Das Wort „Bekanntgeben“ an sich ist schon eine Übertreibung, denn die Bundesregierung geht nicht gerade Hausieren mit ihren Schnüffelstatistiken. Keine Pressekonferenz, keine schicken Broschüren mit bunten Grafiken oder sonstigen Erläuterungen. Nackte PDF-Tabellen und Paragraphen. Das muss reichen, um der Informationspflicht Sorge zu tragen.

Um zu verstehen, was diese Zahlen überhaupt bedeuten, habe ich mich mit Florian Ramseger vom Datenvisualisierungsportal tableau zusammengesetzt. Die für diesen Blogpost erstellten Info-Grafiken (frei verwendbar unter CC-BY-4.0) zeigen, dass die elektronischen Überwachungsmaßnahmen in Deutschland auch ohne Vorratsdatenspeicherung massiv ausgeweitet worden sind in den letzten Jahren. Allein die Zahl der versendeten Stillen SMS zur heimlichen Ortung von Handys hat sich von 2012 (100.706 SMS) auf 2013 (211.102 SMS) mehr als verdoppelt (Quelle: Nachfrage beim Bundesinnenministerium).

 

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Die Schaubilder machen deutlich, was Juristen des Bundestags in Bezug auch auf die geplante Vorratsdatenspeicherung kritisieren: eine schwammige Definition des Begriffs „schwere Straftat“. Die Behörden wollen sich durch diese Ungenauigkeit den Spielraum, für was sie die Überwachungsmaßnahmen letztlich einsetzen, bewusst offen halten.

So werden bereits vorhandene Fahndungsinstrumente wie die Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) heute überwiegend zur Verfolgung von gewöhnlicher Drogen- und Bandenkriminalität eingesetzt, nur selten jedoch für den viel zitierten Kampf gegen Terrorismus oder gegen Kinderpornographie, mit der sie ursprünglich mal begründet war.

 

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Die von den Politikern vorgetragenen Motive für die Alternativlosigkeit von mehr Überwachung zur Bekämpfung von Schwerstkriminalität erweisen sich weitestgehend als Etikettenschwindel. Wegen Steuerbetrug oder einfachen Straftaten gegen die öffentliche Ordnung werden heute fünfmal mehr Telefone und Computer angezapft, als bei Fällen von Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch.

 

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Darüber hinaus zeigt die Praxis, dass eine Kontrolle über die ausufernden Abfragen de facto nicht stattfindet. Schon heute haben 148 Behörden automatisierten Zugriff auf Bestandsdaten ohne Richtervorbehalt. Laut Bundesnetzagentur wurden allein im Jahr 2014 über 8 Millionen Abfragen von Sicherheitsbehörden getätigt. Wer will die Rechtmäßigkeit all dieser Eingriffe kontrollieren?

 

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Und wie soll man sich gegen eine ausufernde Überwachung zur Wehr setzen, wenn man noch nicht einmal davon erfährt? Studien des Max Planck Instituts haben ergeben, dass Betroffene von TKÜ-Überwachungsmaßnahmen in der Regel nicht darüber informiert werden, wenn sie belauscht werden. Auch die richterliche Kontrolle stehe nur auf dem Papier, da kein Richter die Zeit habe, die Anträge zu überprüfen.

 

 

Fazit

Unabhängig davon, ob die Gesetze eingehalten werden oder nicht: Bereits die Erfassung und Speicherung aller unserer Gesprächs-, Text- und Mail-Kontakte, unserer Bewegungsdaten, Tag und Nacht, bedeutet eine massive Machtverschiebung – weg vom einzelnen Bürger – hin zur allumfassenden Staatsgewalt. Wir alle sind darauf angewiesen, dass der Staat diese Macht nicht missbraucht.

Selbst wenn die reine Aufbewahrung dieser Daten heute noch kein Problem darstellen mag; unsere Geschichte hat uns Deutsche nicht nur einmal gelehrt, dass sich die Zeiten ändern können. Wer kann schon wissen, wer in 10 oder 20 Jahren unser Land regiert? Daten sind verführerisch. Sie können Karrieren befördern oder auch zerstören. Niemand kann vorhersagen, wozu sie eines Tages genutzt werden.

 

 

 

 

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18 Kommentare
  1. […] „Schwere Straftaten“ sind Drogenhandel, -anbau und -einfuhr & Brandendiebstahl. Ich dachte an Mord- und Totschlag: gutjahr.biz/2015/10/vorrat… […]

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