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Wurde die malaysische Passagiermaschine tatsächlich von pro-russischen Militärs abgeschossen? Wer steckt wirklich hinter den Giftgas-Angriffen in Syrien? Ein Startup aus Israel hat eine Methode erarbeitet, um selbst in undurchsichtigen Situationen die Wahrheit ans Licht zu bringen. Dazu setzt rootclaim auf Crowdsourcing und die Unfehlbarkeit von Mathematik.

Die Wahrheit ist irgendwo da draußen. Das Problem: die Lügen auch. Internet und Web 2.0 haben die Deutungshoheit der Medien ins Wanken gebracht. Klassische Medienhäuser werden als Lügenpresse beschimpft. Facebook wird für die Verbreitung von Falschmeldungen verantwortlich gemacht. Ob in Europa oder den USA, Demagogen und Verschwörungstheoretiker sind auf dem Vormarsch.

 

 

Wem kann man noch trauen? 

Ein achtköpfiges Team aus Israel hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit Fake News und Spekulationen im Netz und in den Medien aufzuräumen. Rootclaims Methodik basiert auf einer Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Um eine komplexe Frage fehlerfrei berechnen zu können, setzt rootclaim auf die Mitarbeit der Masse sowie auf Mathematik.

Besucher können aktuelle Fragen auf der Webseite diskutieren oder aber in einem Eingabefeld eigene Fragen formulieren, die anschließend in weniger komplexe, untergeordnete Thesen aufgeteilt werden. Diese Thesen werden dann unabhängig von der Ausgangsfrage, öffentlich diskutiert und – ähnlich wie bei Wikipedia – ergebnisoffen durch Fakten belegt oder entkräftet.

 

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Kannst du dir selbst trauen?

Wenn es um eine objektive Bewertung von Fakten geht, möchte das Team von rootclaim einen unserer härtesten Gegner bezwingen: uns selbst. Wir Menschen besitzen grundsätzlich über ein gut ausgeprägtes Gespür für Wahrscheinlichkeit. Aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt. Zahlreiche Studien belegen, dass wir Menschen dazu tendieren, Informationen, die gegen unsere Überzeugungen laufen, gerinzugschätzen.

Hinzu kommt, dass die Information, die uns erreicht, in der Regel bereits gefiltert und bearbeitet worden sind. Leser übersehen gerne Argumentationsschwächen, die sich in gut geschriebenen Texten, schlüssig erscheinender Prosa verstecken.

Die rootclaim-Plattform berücksichtigt alle bekannten Fakten, untersucht diese nach ihrer Glaubwürdigkeit und nutzt Wahrscheinlichkeitsmodelle, um konkurrierende Hypothesen zu bewerten.

 

Teste deine Intuition in diesem Video

Wie lässt sich Realität berechnen?

Anhand der angesammelten Fakten lassen sich die Thesen und ihr Wahrheitsgehalt mit einem Wahrscheinlichkeitswert versehen. Diese Werte können dann mithilfe einer mathematischen Formel (Bayes’sches Netz) berechnet werden und ergeben die Antwort auf die ursprüngliche Ausgangsfrage.

Zum Start hat das Team von rootclaim sechs Fallbeispiele ausgearbeitet, um die Methodik der Seite zu demonstrieren. So unterstützt die Plattform beispielsweise die These, wonach die malaysische Passagiermaschine MH17 von pro-russischen Militärs abgeschossen sein muss (mit einer Wahrscheinlichkeit von 95,3 Prozent).

Im Fall der Giftgas-Angriffe in Syrien wiederum kommt die Seite zu einem anderen Ergebnis als das westliche Narrativ. Laut rootclaim stammt das in der Region Ghuta eingesetzte Sarin von syrischen Rebellen, nicht, wie von vielen Medien berichtet wurde, aus Assads Waffenarsenal (Wahrscheinlichkeit 92,4 %).

 

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Das Interview

 

Diese Woche habe ich mich mit den beiden Gründern, Aviv Cohen, Saar Wilf* und dem Team von rootclaim in Tel Aviv getroffen und zu ihrer Plattform befragt. Ein Gespräch über Journalismus, Verschwörungstheorien und die Haare von Donald Trump.

* Offenlegung: Saar Wilf, einer der beiden Gründer, ist mein Schwager

 

Saar, Du sprichst schon seit Jahren über diese rootclaim-Idee – wie hat das alles angefangen?

Saar: Mir war schon immer klar: Rationales Denken, Mathe, und Daten können einem helfen, die Welt besser zu verstehen. Ist doch komisch, dass es so viele Themen gibt, über die schon seit Jahrhunderten debattiert wird, zum Beispiel beim Thema Volkswirtschaft, und irgendwie gibt’s keine Lösung. Ich hab lange gebraucht, bis ich auf den Trichter gekommen bin. Bevor wir [mit] Aviv [zusammengearbeitet haben], hatten wir drei Versionen, die danebengegangen sind. Sie sind nicht völlig danebengegangen, denn jede hat uns einen Schritt weitergebracht. Bis wir dann vor anderthalb Jahren endlich was gebaut haben, was wirklich funktioniert. Wir haben eine Mythologie drumherum entwickelt, wie man das Netzwerk mit den bestmöglichen Informationen füttert. Als wir das gemacht hatten, kriegten wir auch die bestmöglichen Antworten. Mit einem Bayesschen Netz durchgeführte Berechnungen geben mathematische Sicherheit. Wenn man am Anfang sein Bestes tut, kriegt man zum Schluss das beste Ergebnis, das man erwarten kann. Am Input zu arbeiten ist relativ einfach, das liegt im Bereich des menschlich Möglichen.

Also ist das jetzt der dritte Anlauf. Was hat denn vorher nicht geklappt?

Saar: Ursprünglich war es stärker auf Logik ausgerichtet. Ich hab viel zu lange gebraucht, bis ich gemerkt habe, dass Logik auf die reale Welt nicht wirklich anwendbar ist. Logik funktioniert nur, wenn man beim Input 100%ige Sicherheit hat, und das ist in der realen Welt nicht möglich. Stück für Stück wurde es dann besser mit der Wahrscheinlichkeit. Es fing mit Aviv an, vor zirka zwei Jahren. Erst als Aviv [ins Team kam], hat er mich überzeugt, dass wir ein Wahrscheinlichkeitsmodell brauchen.

Aviv: Es lag vielleicht daran, dass ich nicht so vorbelastet war wie Saar von seinen ersten Versuchen, deswegen hatte ich keine emotionalen Probleme damit, das zu sagen. Ich hatte kein Herzblut in die Vorgängerversion investiert. Und dann gings einfach.

Saar: Das alte Modell konnte man ziemlich leicht austricksen. Jetzt ist es sehr strukturiert. Wenn jemand mit [einer Aussage] nicht einverstanden ist, dann muss er schlicht beweisen, dass eine der Zahlen nicht stimmt, oder dass Nachweise fehlen. Das Modell an sich ist mathematisch perfektioniert. Es kann nur versagen, wenn der Input nicht stimmt, und das kann immer überprüft werden. Jeder kann Nachweise eingeben, jeder kann jede Zahl anzweifeln. Es ist sehr robust. Die Crowd kann es jederzeit nachbessern und alles überprüfen. Die Software ist vollkommen offen und kann von Tausenden von Entwicklern überprüft werden. Deshalb kann man ziemlich sicher sein, dass da keine CIA-Trojaner drin versteckt sind.

 

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Wer arbeitet sonst noch in eurem Team?

Aviv: Wir sind immer zu dritt oder zu viert. Die eigentliche Software-Entwicklung machen wir offshore. Was ich als unser Team bezeichnen würde, sind hauptsächlich Analysten. Jeder macht verschiedene Sachen. Das Erste sind die Recherchen für die Geschichten, mit denen wir starten wollen. Da wir noch keine Crowd haben, simulieren sie die Crowd. Die suchen online nach Beweisen, Informationen, die für den jeweiligen Fall wichtig sind. Sie recherchieren, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass etwas wahr ist. Außerdem haben wir gemeinsam eine Schnittstelle entwickelt, das war auch eine Team-Leistung. Das Beyessche Netz war schon da, aber wir müssen komplexe Situationen aus der realen Welt in das Beyessche Netz reinmodellieren. Wir mussten uns alle möglichen Regeln und Tools ausdenken, mit denen wir das machen konnten. Das hat das Team gemeinsam gelernt und entwickelt.

Das sind keine Journalisten? 

Aviv: Nein, es sind keine Journalisten im Sinne von investigativem Journalismus. Die rufen niemanden an und versuchen neue Infos zu kriegen. Die suchen nur nach öffentlich zugänglichen Nachweisen. Aus Zeitungen, aus dem Web, aus dem Fernsehen. Wir sehen es nicht als unsere Aufgabe an, neue Informationen oder neue Beweise aus geheimen Quellen aufzudecken. Wir konzentrieren uns lieber darauf, bereits existierende Informationen mit einer mathematisch belastbaren Lösung zu bearbeiten, um herauszufinden, was höchstwahrscheinlich richtig ist. Wir wissen nicht zu 100% was wahr ist, aber bei bestimmten kontroversen Themen können wir die Unsicherheit reduzieren. Bei Fragen, die nicht so einfach beantwortet werden können.

Saar: Wir hatten den Fall eines Leichenfundes. Die Frage war, wurde dieser Mensch umgebracht oder war es Selbstmord. Ein Beweisstück war die Tatsache, dass seine Hand keine Schmauchspuren aufwies. Also ist die Frage: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er keine Schmauchspuren an der Hand hat, wenn er sich erschossen hat? Das kann man recherchieren. Das FBI hat eine Datenbank mit über tausend Fällen. Ausgehend von diesen Daten gab es bei 92% der Fälle Schmauchspuren, und bei 8% gab es keine. So eine Frage kann einer unserer Analysten beantworten. In Zukunft haben wir die Crowd, die uns diese Informationen besorgen kann, und wir müssen es nur verifizieren. Wir haben nicht die Absicht, für diese Art Arbeit Tausende von Analysten einzustellen.

Was kann euer System besser als ein normaler Journalist?

Aviv: Wir konzentrieren uns auf die Analyse, nicht auf die Schlagzeilen, oder darauf, Leuten hinterherzulaufen, die noch was wissen könnten. Wir konzentrieren uns darauf, alle Informationen zu sammeln, manchmal gibt es widersprüchliche Informationen, der eine sagt dies, der andere das, Nachweise sind unterschiedlich zuverlässig. Und an der Stelle stoßen wir als Menschen an unsere Grenzen. Wir können nur schwer mit Komplexität umgehen, wir alle, egal, wie intelligent wir sind.

 

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Was kann die Maschine wirklich besser als das menschliche Gehirn? 

Saar: Alles ist explizit und transparent. Alles kann überprüft werden. So bleiben wir ehrlich. Bei einem Journalisten, und sei er noch so guten Willens, weiß man nie, von was für Annahmen er eigentlich ausgeht, wenn er sagt, irgendwas ist wahrscheinlicher als irgendwas anderes – heißt das, es ist nur ein bisschen wahrscheinlicher oder ist es 99% wahrscheinlicher.

Wir nehmen eine große komplexe Fragestellung. Wir haben viele verschiedene Informationen, wir versuchen, die Frage aufgrund dieser Informationen zu beantworten. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe. Studien haben gezeigt, dass wir Menschen alle möglichen kognitiven Vorbelastungen haben, alle möglichen logischen Fehler machen – vielleicht liegt das an der Evolution, oder vielleicht ist es einfach nur schwierig, aber wir verfangen uns in diesen Fallstricken.

 

 

Aviv: Unsere Methodik nutzt Wahrscheinlichkeitsmodelle, und damit drehen wir die Dinge ein bisschen um. Wir fragen nicht, ausgehend von diesen gesicherten Fakten, welche Hypothese oder welche Antwort ist wahr, sondern wir stellen die gegensätzliche Frage. Bei jedem Hinweis fragen wir andersherum. Nimm das Beispiel von eben: Gehen wir mal davon aus, dass er sich erschossen hat – wie groß ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass man Schmauchspuren an er Hand findet? Und denk daran, das war eins von Tausenden von Puzzlestücken. Stell Dir diese Menge Informationen vor und die Frage nach der Wahrscheinlichkeit von jeder einzelnen Information – da geht man drauf dabei. [Deshalb] drehen wir die Fragen um und achten darauf, dass es einfache Antworten gibt. Dann kriegen wir jede Menge Antworten auf relativ einfache Fragen und der Algorithmus nimmt alle die eingegeben Wahrscheinlichkeiten und gibt uns eine Schlussfolgerung, die auf einem unbestreitbaren mathematischen Ergebnis beruht. Wenn Dir die Schlussfolgerung nicht richtig vorkommt, dann hast Du natürlich alles Recht der Welt, die Eingaben in Frage zu stellen. Du kannst die Wahrscheinlichkeit oder die Fakten angreifen. Aber wenn wir uns über den Input einig sind, dann sind die Schlussfolgerungen zweifelsfrei. Es ist Mathematik. Es beruht auf dem Beyesschen Theorem. Thomas Beyes war ein Mathematiker des 18. Jahrhunderts. Es ist wie zwei und zwei ist vier.

Wie verhindert Ihr, dass Verschwörungstheoretiker Eure Plattform übernehmen?

Aviv: Erstmal wollen wir die gar nicht daran hindern, die Plattform zu nutzen. Wenn sie Beweise liefern, dann stimmt sie ja vielleicht, die Verschwörungstheorie. Manchmal stimmen Verschwörungstheorien. Jeder soll gerne seinen Teil beitragen. Wenn jemand behauptet, die US-Regierung war verantwortlich für 9/11, na klar, zeig uns die Beweise, vielleicht hast du ja Recht. Wir haben keine vorgefassten Meinungen. Bei Verschwörungstheorien gibt es meistens alle möglichen seltsamen, aber vielleicht auch plausiblen Erklärungen für ganz bestimmte winzige Detailinformationen, aber unterm Strich passt die ganze Sache einfach nicht zusammen.  Vielleicht ergibt deine Erklärung für Information eins noch Sinn, und bei der zweiten Teilinformation auch, aber die beiden Aussagen widersprechen sich gegenseitig – die können nicht beide gleichzeitig zutreffen. Es ist schwierig, solche Sachen zu entdecken, aber bei einer Systematik wie der unseren kommen solche Widersprüche ganz leicht zutage. Solche Rechtfertigungen für Verschwörungstheorien können schnell zu Fall gebracht werden.

Je mehr Informationen Ihr habt, desto besser werden also die Ergebnisse. Gibt es ein Minimum an Daten, die Ihr braucht, um sicher zu sein, dass Euer Rückschluss auch stimmt?

Saar: Das ist richtig. Je mehr Informationen wir haben, desto näher kommen wir der Realität. Situationen in der realen Welt sind unvermeidlich sehr komplex mit vielen verschiedenen Variablen. Wir simplifizieren die reale Welt etwas, auch wenn wir noch so viele Informationen haben. Es ist schwer, eine Untergrenze festzumachen. Je mehr Informationen wir haben, desto näher kommen wir der richtigen Antwort, und desto weniger Fluktuation können wir erwarten.  Derzeit sammeln unsere Analysten ihre Informationen noch selbst, deshalb sind wir relativ zuversichtlich, dass wir die wichtigsten Nachweise beieinander haben. Vielleicht haben wir hier und da was übersehen, aber wahrscheinlich nicht eins der tragenden Elemente für die ganze Geschichte. Wenn wir in den Crowd-Modus übergehen, müssen wir überprüfen, dass die wichtigsten Informationen vorliegen, bevor wir mit der Beurteilung anfangen können. Und wenn immer mehr Informationen reinkommen, werden wir immer genauer. Wenn wir zwei Hypothesen haben, die mit 99 zu 1 gegeneinander im Rennen liegen, dann ist es sehr unwahrscheinlich, dass ein einzelnes neues Beweisstück alles umdreht. Statistisch ergibt das keinen Sinn, es ist wahrscheinlicher, dass sich ein solches Verhältnis nur schrittweise ändern lässt.

 

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Bei wenig Information gibt es nur mehr oder weniger fundierte Vermutungen …

Aviv: Es ist schon was wert zu wissen, dass ausgehend von einem gegebenen niedrigen Informationsstand eine Wahrscheinlichkeit besteht, dass dieses oder jenes geschehen sein könnte – obwohl wir zugeben [müssen], dass wir wenig Material haben. Aber in der Realität ist es doch so: eine neue Situation entwickelt sich, niemand weiß wirklich, was geschehen ist, aber wir wissen, dass eins, zwei und drei zutreffen. Dann können wir sagen: Ausgehend von diesen Informationen ergeben sich diese Wahrscheinlichkeiten.

Saar: Wenn so eine Geschichte losgeht, dann kommen Tendenzen, Vorurteile und gängige Meinungen ins Spiel. Wenn man hört, dass was passiert, dann zieht man schnell voreilige Schlüsse. Manchmal ist es interessant, sich die Statistiken anzuschauen, aus denen hervorgeht, dass in ähnlichen Fällen jemand anders der/die Täter/in war, obwohl wir das nicht wirklich wissen. Wir versuchen, aus allen uns zugänglichen Daten Informationen herauszuholen. Und wenn wir wachsen, werden wir uns mehr und mehr auf die Crowd verlassen müssen, um diese Informationen zu bekommen. Wir haben die Hoffnung, dass Alle mit starken Gefühlen im Hintergrund hart dafür arbeiten werden, ihre jeweilige Seite bei einer umstrittenen Thematik zu begründen. Die Beweise werden hochkommen, denn die Menschen werden motiviert sein, ihre Seite zu verteidigen.

Ihr werdet jetzt eure Plattform mit einigen Geschichten starten: “Was ist mit MH17 passiert?” – “Wer stand hinter dem syrischen Sarin-Gasangriff?ˮ – “Was ist die Wahrheit über die Haare des Donald Trump?ˮ

Aviv: Einerseits haben wir nach Geschichten gesucht, die ein globales Publikum interessieren. Auf der anderen Seite sollten es Geschichten sein, bei denen die Antwort nicht klar ist. Da hoffen wir, dass unser System wirklich zeigt was es kann. Wir versuchen auch, nach Geschichten zu suchen, bei denen die Antwort nicht notwendigerweise damit übereinstimmt, was Alle denken oder was die Medien berichten. Die sind schwer zu finden. Einfach interessante Geschichten, bei denen es keine klare Antwort gibt. Und es gibt keine klare Antwort, weil es Hinweise in jede Richtung gibt.

 

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Wo stößt eure Plattform an ihre Grenzen?

Aviv: Es gibt Fragen, die wir bislang nicht behandeln, nicht weil die zu groß wären, sondern wegen einer Reihe von Eigenschaften, die wir noch nicht angegangen sind. Wir haben das Konzept, wie wir sie angehen wollen, aber wir haben es noch nicht implementiert. Wir beschäftigen uns auch nicht mit Voraussagen, weil uns die noch zu komplex sind. Aber alle diese Dinge basieren auf den gleichen mathematischen Voraussetzungen. Es ist komplexer, aber vom Konzept her ist es nicht anders. Wir müssen noch ein paar methodische Schritte entwickeln, bis wir soweit sind. Aber nichts hindert uns daran, in diese Richtung weiterzugehen.

Wie wollt Ihr mit rootclaim Geld verdienen?

Saar: Wir haben ein paar Ideen, die wir testen müssen, sobald die Plattform freigeschaltet ist. Eine Idee ist, unser System in die Umgebungen von Organisationen einzubinden, das können Firmen sein oder auch Regierungen, die komplexe Fragestellungen analysieren wollen. Deren Crowd wären dann die eigenen Angestellten oder interne Experten. Die können dann gemeinsam und rational analysieren, was der beste Ansatz für eine Produkteinführung wäre. Nachrichtendienste oder Banken mit Hunderten von Analysten wollen zu einem Schluss kommen, in welche Richtung sie weitergehen sollen. Ich kann mir so ein System in solchen Umgebungen vorstellen. Außerdem glaube ich, dass eine Site wie die unsere extrem populär werden und sich so finanzieren kann – also es gibt jede Menge Ideen.

Ihr habt beide bei Fraud Sciences gearbeitet. Gibt es Ähnlichkeiten zwischen Kreditkartenbetrügern und den Lügen, die wir in den Nachrichten serviert bekommen? 

Saar: In gewisser Hinsicht ist die Grundidee schon ähnlich. Bei Online-Verkäufen gibt es nur zwei Optionen: entweder der Käufer ist legitim, oder er ist ein Betrüger. Dann gibt’s alle möglichen Hinweise. Man sieht, wie oft ein Käufer ins Internet geht, welche Email-Adressen er anschreibt, etc. Anstatt die Fakten direkt anzuschauen und voreilige Schlüsse zu ziehen, drehen wir die Vorgehensweise um und sagen: wenn du ein Betrüger wärst, wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, dass du dich hinter einem Proxy-Server versteckst? Und wenn du eine legitime Person wärst, wie groß wäre die Wahrscheinlichkeit dann? Fraud Sciences hat etwas gemacht, was wir als Blut-Test bezeichnen. Wir haben uns alle möglichen Parameter angesehen, die uns helfen können, zwischen Betrügern und legitimen Käufern zu unterscheiden. Zum Schluss haben wir uns alle Wahrscheinlichkeitsverhältnisse angeschaut. Diesen Grundansatz haben wir nicht erfunden, der ist schon vielfach zur Anwendung gekommen, im Transportwesen, in der Medizin und in vielen Netzwerk-Anwendungen. Das Neue bei uns ist, dass wir diese Methode erstmalig in einem Gebiet anwenden, wo es nur ungenaue Umgebungen gibt. Komplexere Umgebungen, mit unterschiedlichen Arten von Daten, Situationen aus der realen Welt. Mathematiker und Naturwissenschaftler mögen diese Art Fragen nicht. Wir sehen uns also nach Informationen um, die entweder die Antwort untermauern oder eine intelligente Vermutung zulassen, und das auf eine Art und Weise, dass zwei Leute sich drüber einig sein können.

 

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Und wenn euer Input falsch oder nicht ausreichend ist?

Aviv: Wir sind sicher nicht perfekt, aber wir haben derzeit den besten Ansatz. Scherzhalber sagen wir, es ist wie bei der Demokratie: es ist das am wenigsten schlechte System. Wenn man zum Beispiel alle Berichte über das vermisste malaysische Flugzeug liest, und man Schwierigkeiten hat, zu verstehen, was da passiert ist, dann können wir sagen: auf Grundlage aller erhältlichen Informationen gibt es eine Wahrscheinlichkeit von 90%, dass das und das geschehen ist. Das gibt einem wenigstens eine Idee davon, was die richtige Antwort sein könnte.

Sind solche Schätzungen nicht bisschen riskant? Wir erinnern uns alle an die Vorhersagen über den Ausgang der Präsidentenwahlen. 

Aviv: Wir konkurrieren nicht mit den Demoskopen. Eine der Ursachen, warum die Demoskopen bei den Amerikanischen Präsidentschaftswahlen versagt haben, liegt in der Frage, wie sie ihre Daten erhoben haben. Wen haben sie angerufen, wer ist ans Telefon gegangen, wer hat Handys – das sind Probleme der Stichprobenauswahl, damit beschäftigen wir uns nicht. Die hatten wahrscheinlich inkorrekten Input. Demoskopie ist eine sehr menschenbezogene Arbeit und muss von Menschen gemacht werden. Ich geh mal davon aus, dass die Demoskopen in Zukunft dran arbeiten werden, ein genaueres Abbild der verschiedenen Teile der Gesellschaft und der Bevölkerung zu zeichnen.

Mit einem System wie dem euren, glaubt ihr, dass in Zukunft Computer die besseren Richter sein werden?

Aviv: Richter sind auch nur Menschen, auch wenn sie gebildete und intelligente Menschen sind. Studien haben bewiesen, dass Menschen immer zu verschiedenen Tendenzen neigen. Ich bin sicher, dass ein System wie dieses ihnen helfen kann, ein Werkzeug für sie sein kann, das ihnen die richtige Richtung zeigt. Es gibt dokumentierte Fälle, bei denen Richter und Geschworene die Wahrscheinlichkeiten bestimmter Beweise nicht richtig interpretiert haben, und Unschuldige verurteilt haben. Schau Dir das Innocence Project in den USA an, bei dem über 300 Leute entlastet wurden, nachdem DNA-Prüfungen eingeführt wurden.

 

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Glaubt ihr, dass eure Site dabei helfen kann, das Vertrauen in die Medien wiederherzustellen?

Saar: Eine interessante Frage wäre ja, dass die Fakten egal sind. Trump konnte sich alles Mögliche ausdenken, und die Leute haben es ihm geglaubt. Die Medienlandschaft ist vielfältig, und man kann zu verschiedenen Webseiten und Sendern gehen, auf denen man seine Meinung bestätigt bekommt. Erderwärmung zum Beispiel. Tausende von Wissenschaftlern sagen, dass das stimmt, aber ein Typ in seiner Autowerkstatt sagt nein, alles Lüge, und er schreibt das in sein Blog oder auf Facebook. Wen nimmst du beim Wort? Wir glauben, dass Worte unterschiedliche  Gewichte haben. Dabei können wir helfen.

Wie überzeugst du die Menschen in einer post-faktischen Gesellschaft? 

Aviv: Ehrlich, es scheinen eine Menge Leute rumzulaufen, denen die Wahrheit ziemlich egal ist. Ich glaube nicht, dass die nun unsere Analysen brauchen, die machen sich sowieso keine Gedanken darüber, was denn nun Sache ist. Diese Website ist für Leute, denen die Fakten wichtig sind. Wenn es da ein Thema mit politischen Implikationen gibt, und man ist ganz klar auf der anderen Seite, dann glaub ich nicht, dass man viele solche Leute überzeugen kann. Aber dann liest eine junge Mutter auf einer Website, dass Impfen Autismus verursacht. Sie ist eine ganz einfache Frau, sie hat sich nie damit beschäftigt, aber plötzlich hat sie ein starkes Interesse an der Wahrheit, weil es um ihr Baby geht. Vielleicht kann es ihr mehr Vertrauen geben, obwohl ihre Freundin ihr was anderes gesagt hat. Ich glaube also, dass unsere Seite letztendlich für alle Menschen wertvoll sein kann. Auch besorgte Bürger bekommen Babies.

 

AvivCohenAviv Cohen – Among other leadership positions, Aviv ran the business side at Fraud Sciences (acquired by PayPal/eBay), which revolutionized online fraud detection using advanced probabilistic models. Aviv earned degrees in Statistics, Computer Science and Management from MIT and Tel Aviv University.

Saar Wilf
Saar Wilf – A serial entrepreneur since 1997, he founded several technology ventures, including Fraud Sciences (acquired by PayPal/eBay), Trivnet (acquired by Gemalto), and ClarityRay (acquired by Yahoo). He is currently co-founder and chairman of several technology startups, including Pointgrab, Deep Optics, and Rootclaim.

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10 Kommentare
  1. Tom schreibt:

    Wahrscheinlichkeit sagt einem nur auf welche zukünftigen Ereignisse man wetten sollte. Mehr nicht.
    Ein gutes Buch zum Thema: „Wirst du nicht vom Blitz erschlagen, lebst du noch in tausend Jahren: Was wirklich gefährlich ist“

    • Illuck schreibt:

      diese Wetten brauchen wir ja zumindest bei Terroranschlägen nicht.
      Herr Gutjahr wird sicher dort vor Ort mit seiner Cam alles filmen.

  2. Ben schreibt:

    Sehr interessanter Ansatz, auch wenn sich meine Intuition(!) dagegen sträubt, dass das funktionieren könnte. Die Fragen sind ja ob das mathematische Modell wirklich abbildet, was man prüfen will, und ob man sicherstellen kann dass das Modell wirklich mit korrekten Informationen gefüttert wird – mit irgendwelchen als wahr angesehenen Fakten muss man ja wohl beginnen? Leider fehlt mir das Fachwissen um den Ansatz zu prüfen.

    Allerdings weiß ich eins: Auf dem MH17-Screenshot ist ganz bestimmt keine malaysische 777 zu sehen. Die Trümmer zeigen einen T-Tail, was zumindest in Kombination mit der russischen Trikolore auf z.B. eine Il-76 schließen lässt. Haarspalterei vielleicht, wenn man es als Symbolfoto betrachtet, aber sowas kann trotzdem von Gegnern genutzt werden, um die Glaubwürdigkeit von rootclaim zu untergraben.

    • Richard schreibt:

      Danke für den Hinweis auf das (Symbol)bild! Ich gebe das sofort weiter. Lass uns das System testen. Auch wenn es sicher nicht perfekt ist, ich finde den Ansatz faszinierend.

Willkommen!